Als die Gegenwart geboren wurde

Als die Gegenwart geboren wurde
Der Krieg läutete einen großen Umbruch ein. Und der Angelpunkt waren die Frauen

Eine Welt ging zu Ende, eine andere entstand. Ich hatte das richtige Alter für dieses neue Jahrhundert. Es wandte sich logischerweise an mich, um sich in der Kleidung zum Ausdruck zu bringen. Es brauchte Schlichtheit, Bequemlichkeit, klare Linien. Dies alles konnte ich bieten.“ Also sprach Coco Chanel und traf damit den Nerv der Zeit.

Was eine Modeschöpferin mit dem Ersten Weltkrieg zu tun hat? Viel, denn abgeschnittene Röcke und Haare waren das äußere Zeichen einer neuen weiblichen Innenwelt. „Ein neues Lebensgefühl begann“, analysiert die Historikerin Gabriella Hauch von der Universität Wien. „Der Angelpunkt war die Frau, ihre neue Position, die sie aufgedrängt bekommen hat, und ihr neues Selbstbewusstsein, das sie nicht mehr aufgeben wollte.“

Männerarbeitsplätze

In der Monarchie ist die Frauen-Erwerbstätigkeit immer sehr hoch gewesen. Für das zweite Drittel des 19. Jahrhunderts hat Hauch die Zahlen: „Damals stellten Frauen 42 Prozent der Erwerbstätigen. Doch während des Kriegs sind sie auf andere Arbeitsplätze gekommen – Männerarbeitsplätze, wo man einfach auch mehr verdient hat.“ So wurden in Linz bereits 1915 die ersten Schaffnerinnen eingestellt, und auch die metallverarbeitende Industrie nahm Frauen auf.

Trotzdem: Die Arbeitsbedingungen waren katastrophal, die Lebensmittelversorgung war schlecht. Hauch: „All das hat ab 1917 in Streiks gemündet. Zu Anfang waren es wilde Streiks, geführt von Frauen, die aus der Not heraus ihr Leben verbessert wissen wollten. Und das hat vieles angeschoben.“

Und dann sind die Männer aus dem Krieg heimgekommen „und haben andere Frauen vorgefunden. Frauen, denen es auch nicht gut gegangen ist, die es aber gewohnt waren, das Leben zu organisieren, zu entscheiden. Die Männlichkeit war plötzlich eine brüchige.“

Wahlrecht, Streiks, Änderung der politischen Kultur, verletzte Männlichkeit: Die Schlagworte sprudeln nur so aus der Historikerin heraus. „Der Erste Weltkrieg war ein Mobilisator für die Frauen.“ Die Alltagskultur hat sich total verändert. „Das Zöpfe-Abschneiden war ein Befreiungsschlag. Nicht nur in Wien, sondern auch in kleinen Provinzstädten wie Linz. ,Wer trägt den Bubikopf‘, wurde in Zeitschriften diskutiert. ,Wir Frauen, die wir uns nicht mehr als Puppen verstehen und nicht mehr am Gängelband der Männer hängen wollen.‘ Es wurde als bewusstes Zeichen eingesetzt.“

„Ein neues Lebens­gefühl begann.“
- Gabriella Hauch,Historikerin

Kurze Röcke, keine Korsetts – Aufbruchstimmung überall. Wir machen uns eine neue Welt, lag als Motto in der Luft. „Einerseits. Andererseits war da auch eine große Desorientierung. Der Wegfall des Vaters Kaiser“, sagt Hauch. „Frauen diskutierten, ob Männer als Verursacher dieses Krieges überhaupt noch das Recht hätten, die weitere gesellschaftliche Situation zu bestimmen.“ Überhaupt sei es unglaublich, was damals diskutiert wurde:

Wir wollen nicht mehr Fräulein genannt werden, zu unverheirateten Männern sagt auch niemand Herrlein.

Soll man den Mann als Haupt der Familie und damit die patriarchale Ehe abschaffen?

Sollen Männer Hausarbeit machen müssen, und brauchen wir eine Fristenlösung?

Therese Schlesinger, Sozialdemokratin der ersten Stunde, machte sich gar Gedanken über das Wohnen und wie wichtig Gemeinschaftswaschküchen und lichtdurchflutete Küchen für ein friedlicheres Miteinander von Mann und Frau sind. Sie postulierte, dass Väter das Recht darauf haben, Väter zu sein, beide sollen in Karenz gehen dürfen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts!

„Damals begann eine umfassende, alle Schichten durchdringende Diskussion über das Frauenwahlrecht. Auch dafür war der Krieg Katalysator“, sagt Hauch. Zwischen 1918 und 1922 erstritten Frauen in weiten Teilen Europas das Stimmrecht. „Zum neuen Lebensgefühl gehörte es auch, links zu sein. Die Abschaffung der Privilegien war Zeitgeist. Frauen-Emanzipation inklusive.“

Es war eine Ära des Umbruchs, mit neuen Technologien, globaler Wirtschaft, Kämpfen zwischen den Geschlechtern und psychischen Krankheiten – unserer Zeit erstaunlich ähnlich, diagnostiziert auch Philipp Blom. Der deutsche Historiker hat mit „Der taumelnde Kontinent“ einen vielbeachteten Bestseller geschrieben.

Wie heute wurden Zeitungen und Gespräche dominiert von neuen Kommunikationsmitteln, Terrorismus und dem brüchigen Sozialgefüge. Damals wie heute waren die Menschen überwältigt von dem Gefühl, in einer sich beschleunigenden Welt zu leben, die ins Ungewisse rast. Massenproduzierte Güter und Elektrizität begannen das Leben zu dominieren, die Globalisierung brachte Fleisch aus Neuseeland, Mehl aus Kanada und verursachte den Niedergang des Adels mit, dessen Wohlstand vielfach auf der Landwirtschaft beruhte. Sie brachte aber auch einen neuen Menschentypen: den Ingenieur, Forscher, Spezialisten.

Das Erbe jener Zeit

„Unsere heutige Welt samt ihren Ungewissheiten wuchs aus den Erfindungen und Gedanken jener ungeheuer kreativen Jahre“, beschreibt Historiker Blom. „Wir sind die Erben der gigantischen Transformation, die das rasende Europa in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts durchlebte.“

Und Gabriella Hauch ergänzt: „Die ersten Wahlen nach dem Krieg 1919 brachten eine große Koalition unter Führung der Sozialdemokratie, die nach eineinhalb Jahren zerbrach. Aber in diesen eineinhalb Jahren wurde die Basis für unser heutiges Sozialversicherungssystem gelegt, für die Urlaubsregelung, die Arbeitslosenversicherung. Da hat sich ganz viel verändert, von dem wir heute noch profitieren.“

Morgen:War das Ende des Ersten der Anfang des Zweiten Weltkriegs?

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