KURIER: Wann haben Sie Karl Lagerfeld zum ersten Mal getroffen?
William Middleton: 1985. Ich arbeitete als Journalist für das Women’s Wear Daily, das eine riesige Wichtigkeit hatte, weil es die einzige Tageszeitung im Modebereich war. Mein Job war, alle Designer 10, 14 Tage vor den Modeschauen zu besuchen und die Kollektionen anzuschauen und sie mit ihnen zu besprechen. Es war überaus hektisch bei Chanel, mit Dutzenden Leuten im Atelier. Die Models gingen rein und raus, und er saß an seinem halbrunden Tisch. Damals trug er formlose schwarze, japanische Kleidung und natürlich Sonnenbrillen. Was mich beeindruckte, und worin er ganz anders war als die anderen Designer: wenn er dich grüßte, schüttelte er dir die Hand, schaute dir in die Augen und du hattest seine volle Konzentration. Das ist eine sehr rare und schöne Qualität. Er war viel herzlicher, als ich es erwartet hatte.
Was hat Sie am meisten überrascht in Ihrer Recherche über Lagerfeld?
Er hat ja immer gelogen über sein Alter. Hat sich konstant fünf Jahre jünger gemacht. Ich dachte immer, das ist Eitelkeit. Bis ich den deutschen Verleger seiner Kunstbücher, Gerhard Steidl traf. Steidl hat ihn einmal gefragt, warum er sich jünger macht. Und Karl meinte: "Ich habe mich immer geschämt, dass ich im selben Jahr geboren wurde, in dem die Nazis an die Macht kamen und mit der Ausrottung der Juden begannen." Da wusste ich, dass er mit der Datumsänderung zu 1938 sagen konnte, dass er vom 2. Weltkrieg nichts mitbekommen hat.
➤ Lesen Sie hier mehr: Freund packt über Karl Lagerfelds Verhältnis zu Claudia Schiffer aus
Sie folgen seinem Leben von den 1950ern bis in die 2010er. Was waren die größten Veränderungen?
Die gab es immer wieder. Ich habe Interviews mit ihm seit 1973 gelesen. Man merkte damals schon, wer er war und wer er sein wollte. Die größte Transformation war sicher zwischen 2004 und seinem Tod, die letzten 15 Jahre. Er hatte 50 Kilo abgenommen, hat falsche Freunde aus seinem Leben entfernt, die besten Kollektionen kreiert, er war immer einzigartig, aber er wurde noch einzigartiger. Es ist unglaublich, dass er noch einem Tag vor seinem Tod mit 85 an seinem Schreibtisch saß und arbeitete. Es gibt da ein Zitat, dass mir nie aus dem Kopf geht, als er sagte: „Ich bin wie Scheherezade. Ich weiß, was ich tun muss, damit der Sultan nie einschläft.“ Und das gilt auch für seine Interviews. Karl Lagerfeld wusste ganz genau, wie er die Journalisten nie langweilen würde.
Er hatte viele berühmten Bekannte, aber wer bedeutete ihm wirklich etwas?
Er kapierte, dass Stars für die Modeindustrie in den letzten 20, 30 Jahren immer wichtiger geworden waren. Wirklich befreundet war er mit wenigen. Er liebte Diane Kruger, die er als Teenager kennengelernt hatte, die auch ein wenig zu ihm aufschaute, und der er immer wieder half mit seinem Wissen über Geschichte und Kultur, speziell, als sie Marie Antoinette spielte.
Warum war er oft öffentlich so stutenbissig?
Er hat immer erzählt, dass seine Mutter sehr bösartig und harsch sein konnte. Als er einmal Tiroler Tracht trug, meinte seine Mutter: „Du siehst aus wie eine alte Lesbe.“ Dazu kommt die Ära, die ihn als Kind prägte, der 2. Weltkrieg und die Tatsache, dass er während des Holocaust im Luxus leben konnte – sein Vater war ein reicher Industrieller – und dass er kurz danach durch Reisen schon eine ganz andere Welt kennenlernen konnte. Da ist viel Scham und Schuldgefühl mit im Spiel. Er schloss das Kapitel Deutschland ab und konzentrierte sich auf Frankreich. Einer seiner Zeitgenossen, der deutsche Künstler Gerhard Richter, der genauso alt war wie er, verarbeitete seine Kindheit, indem er die Bombardierung von Dresden, die er miterlebt hatte, in seiner Kunst verarbeitete. Karl machte das Gegenteil. Er wollte nie wieder davon hören. Als er Jahre später Michael Hanekes „Das Weiße Band“ sah, konnte er nächtelang nicht schlafen. Es erinnerte ihn viel zu sehr an seine Kindheit. Er wollte nur weg. Und als er 1954 zum ersten Mal in Paris aus dem Zug stieg, hatte er das Gefühl, endlich daheim zu sein.
Kommentare