Überflieger und Pechvögel: Die Haltungsnoten der Tournee
Zehn Tage lang beherrschten die Skispringer den Luftraum zwischen Oberstdorf und Bischofshofen. Nun ist die Nervenschlacht geschlagen und die 69. Vierschanzentournee Geschichte. Kamil Stoch gewann nicht nur den Bewerb in Bischofshofen, sondern damit auch zum dritten Mal nach 2017 und 2018 die Gesamtwertung.
Der KURIER lässt die letzten Tage noch einmal Revue passieren und vergibt die Haltungsnoten für diese Vierschanzentournee.
- 20,0 Die Polen
Hochachtung, wie die polnische Mannschaft das Test-Tam-Tam von Oberstdorf weggesteckt hat. Der kurzzeitige Tournee-Ausschluss des gesamten Teams nach einem vermeintlich positiven Covid-Test warf Kamil Stoch & Co. keineswegs aus der Bahn, vielmehr schienen die Polen wie beflügelt, nachdem diese Entscheidung in Oberstdorf wieder zurückgenommen worden war.
Die polnischen Springer hatten bei dieser Tournee die Lufthoheit, wie die Siege von Dawid Kubacki (Garmisch-Partenkirchen) und Kamil Stoch (Innsbruck, Bischofshofen) zeigten. Im Sog der Superstars zeigten auch die Teamkollegen auf – nicht von ungefähr übernahmen die Polen bei der Tournee die Führung im Nationencup.
- 19,0 Marius Lindvik
Als der Norweger beim Auftaktspringen in Oberstdorf auf dem dritten Rang landete, wurde er bereits von heftigen Zahnschmerzen geplagt. In der Silvesternacht musste sich der Vorjahreszweite in der Innsbrucker Klinik einer Kieferoperation unterziehen und verpasste die Springen in Garmisch und am Bergisel.
Dass Marius Lindvik nur wenige Tage nach dem Eingriff, bei dem ihm unter Vollnarkose ein entzündeter Weisheitszahn entfernt wurde, in Bischofshofen schon wieder auf der Schanze auftauchte und dort auch gleich hinter Kamil Stoch Zweiter wurde, verdient sich Respekt und höchste Haltungsnoten.
- 18,5 Die TV-Experten
Da der Stadionbesuch heuer aus bekannten Gründen ausfallen musste, wurde diese Tournee notgedrungen zum TV-Ereignis. Zumindest im Fernsehen hatten die Österreicher dank der profunden Expertisen und Analysen von Martin Koch (ORF), Anton Innauer (ZDF) und Werner Schuster (Eurosport) das Sagen.
- 17,0 Thomas Lackner
Wenn dem Tiroler vor sechs Wochen wer gesagt hätte, dass er bei der Vierschanzentournee dabei sein würde, dann hätte Lackner ihm wahrscheinlich den Vogel gezeigt. Der Jus-Student gehört keinem ÖSV-Kader an und war in seiner Karriere fast ausschließlich im Kontinentalcup im Einsatz.
Wegen der vielen Corona-Infektionen im österreichischen Nationalteam erhielt der 27-Jährige völlig unverhofft eine Chance im Weltcup und erfüllt seither das in ihn gesetzte Vertrauen. Der Tournee-Debütant schaffte es drei Mal in die Punkteränge und verpasste nur beim Finale in Bischofshofen die Top 30.
- 16,0 Die ÖSV-Wettkampfform
Sieg in der Qualifikation von Oberstdorf (Philipp Aschenwald), Platz vier in Garmisch (Stefan Kraft), Rang zwei am Bergisel (Daniel Huber), die Positionen 4, 5 und 7 in Bischofshofen – die österreichischen Skispringer verschossen ihr Pulver regelmäßig bereits in der Qualifikation.
Im Wettkampf ließen die ÖSV-Adler dann aber meist Federn. In Bischofshofen sorgte Stefan Kraft mit Rang vier für das beste Tages-Ergebnis im Rahmen dieser Tournee. Der Salzburger war als Achter auch der beste ÖSV-Springer in der Gesamtwertung.
- 15,0 Michael Hayböck
Nach seinem vierten Platz bei der Skiflug-WM in Planica war der Oberösterreicher mit großen Ambitionen in die Tournee gestartet. Doch statt der erhofften Euphorie stellte sich rasch Ernüchterung ein: In Oberstdorf und Partenkirchen gelang Hayböck nicht einmal der Sprung in den Finaldurchgang. Immerhin ließ sich der 29-Jährige nach den beiden Rückschlägen nicht hängen und zeigte am Bergisel (9.) und in Bischofshofen (6.) die gewünschte Reaktion.
- 9,0 Andreas Wellinger
46. in Oberstdorf, 53. in Garmisch – das sind nicht die Ansprüche des Olympiasiegers von 2018. Nach einem Kreuzbandriss (2019) und einem Schlüsselbeinbruch (2020) mühte sich der Deutsche ab und stieg daher schon zur Tournee-Halbzeit aus.
- 6,0 Andrew Urlaub
Der Amerikaner sollte sich vielleicht einen neuen Schneider suchen. Nachdem er bereits beim Weltcup im finnischen Ruka bei der Anzugkontrolle durchgefallen war, wurde bei seiner Rückkehr in den Weltcup in Bischofshofen sein Anzug erneut beanstandet. Somit wurde Andrew Urlaub bei drei Einsätzen im Weltcup zwei Mal disqualifiziert.
- 3,5 Simon Ammann
Schön langsam stellt sich die Frage: Warum tut sich Simon Ammann das noch an? Über viele Jahre war der Schweizer für seine Leistungen bewundert worden, mittlerweile erntet der 39-Jährige fast nur noch Mitleid.
Dass der vierfache Olympiasieger auf den Spuren von Noriaki Kasai wandelt, der im Alter von 42 Jahren noch einen Weltcup gewonnen hat, erscheint ausgeschlossen. In Garmisch war er als Vorspringer im Einsatz, nachdem er sich nicht einmal mehr für das 50er-Starterfeld qualifizieren konnte.
- 1,5 Gregor Schlierenzauer
Nachdem im Tournee-Aufgebot kein Platz für ihn war, wollte der zweifache Gesamtsieger die Bewerbe am Bergisel und in Bischofshofen nützen, um wieder zurück ins Weltcup-Team zu springen. Dieses Vorhaben ging gründlich daneben: Schlierenzauer blieb ohne Punkte und erwies sich in Bischofshofen dabei auch noch als schlechter Verlierer. Nach seinem schwachen Sprung verweigerte der Tiroler die Materialkontrolle und wurde disqualifiziert. "Er war sehr enttäuscht. Ich werde in Ruhe mit ihm reden müssen", sagt ÖSV-Chefcoach Andreas Widhölzl.
- 0,5 Die Tournee-Atmosphäre
Skispringen ohne das frenetische „Ziiieeeeeeh“ der Fans, ohne Fahnenmeer, Applaus und Standing Ovations ist ungefähr so prickelnd wie abgestandener Sekt.
So herausragend die sportlichen Leistungen von Oberstdorf bis Bischofshofen waren, so spannend sich der Kampf um den Goldenen Adler darstellte, so sehr sich die Stadionsprecher auch ins Zeug legten – die übliche Tournee-Atmosphäre wurde von den Skispringern und Fernsehzusehern diesmal schmerzhaft vermisst.
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