Nikolas Zimmermann ist seit 2012 Meteorologe beim Wetterdienst Ubimet. Mit dem KURIER sprach er über schlechte Gletscherzeiten, herbstliche Anomalitäten und die Aussichten für den Weltcup-Auftakt in Sölden.
KURIER: Die Ausgangslage für den Sommer 2022 auf den Gletschern in den Alpen war so schlecht wie lange nicht: Im Süden kaum Niederschlag ab Dezember, im Norden ab Februar, dazu ein heißer Sommer – was dazu führte, dass der Skibetrieb heuer selbst in Zermatt eingestellt werden musste. Nur Saas Fee hielt zumindest für Profi-Trainingsgruppen durch.
Nikolas Zimmermann: Es ist alles Negative zusammengekommen, was zusammenkommen kann: Der Winterschnee hat gefehlt, mehrfach kam Saharastaub, das Frühjahr war extrem trocken und der Sommer heiß. Normalerweise wäre jetzt – Mitte, Ende Oktober – bereits die Akkumulationszeit auf den Gletschern, aber das Defizit setzt sich fort. Auch dieser Monat ist wieder zu trocken, wir steuern auf den wärmsten Oktober seit Messbeginn zu. Und Messbeginn war immerhin schon im Jahr 1776. Vor allem in der Höhe sind die Abweichungen von den Mittelwerten sehr stark, und das geht so weiter – eine Änderung ist derzeit nicht in Sicht.
Für die Gletscher heißt das nichts Gutes.
Derzeit werden die Massebilanzen erstellt. Am Tiroler Alpenhauptkamm ist es die schlechteste Massebilanz der Geschichte, noch deutlich schlechter als 2003. Am Alpenhauptkamm gab es deutlich weniger Niederschlag und einen drastischen Eisschwund.
Dafür gab es viele schwere Unwetter, das Stubaital wurde im Sommer beispielsweise binnen kürzester Zeit gleich zweimal heimgesucht.
Was heuer ausgeblieben ist, war der Sommerschnee im Hochgebirge. Wenn es geregnet hat, dann auch dort – und am nächsten Tag hat wieder die Sonne geschienen. Es gab keine Entspannung.
In Frankreich hat man die Skistationen in den 1960er- und 1970er-Jahren vielfach auf dem Reißbrett entworfen, und viele beginnen erst im Bereich von 1.500 bis 1.800 Metern. In Österreich hingegen funktioniert der Skibetrieb auch unterhalb von 1.000 Metern noch, siehe etwa Kitzbühel oder Schladming.
Österreich liegt eher am Ostrand der Alpen, in Frankreich ist der Einfluss des Atlantiks wesentlich größer. Und dazu kommt, dass es hier viele Beckenlagen gibt, in denen sich Kaltluftseen bilden. Klagenfurt zum Beispiel hatte im letzten Winter unter den Landeshauptstädten die meisten Tage mit einer Schneedecke. Wenn es in so einer Beckenlage einmal kalt ist, geht diese Luftmasse kaum mehr weg, dann sieht es in den tiefen Lagen für den Wintersport besser aus als in den höheren. Ein anderes Beispiel ist St. Michael im Lungau: Wenn dort einmal die Kaltluft liegt, braucht es schon einen Föhnsturm, damit sie verschwindet.
Am Ostrand der Alpen – Stichwort Semmeringregion – herrscht schon seit einigen Jahren ein Niederschlagsdefizit, und dazu wird Wintersport auf Naturschnee immer seltener.
Das ist auch nicht die klassische Region für einen Kaltluftsee, dort braucht es kalte Luft und Niederschlag – und den bringt in der Regel dann ein Italientief. Und diese sind in den letzten Jahren eher selten geworden. Es gab zwar im Dezember 2021 ein paar, aber dann auch lange Pausen. Die Italientiefs sind sehr komplex, das warme Wasser im Mittelmeer spielt dabei aber eher keine Rolle. Das spielt sich eher im Nordatlantik und im Nordpolarmeer ab, die Strömung und der Jetstream ändern sich etwas. Das kann eine mehrjährige Schwankung sein, das kann auch ein Symptom des Klimawandels sein, das wissen wir derzeit nicht. Klar ist aber: Die mittlere Nullgradgrenze steigt immer weiter, und somit fällt immer häufiger der Niederschlag als Regen.
Apropos Schwankung: Im Pazifik dominiert derzeit wieder das Wetterphänomen La Niña. Wirkt sich diese Anomalie eigentlich auch auf Europa aus?
Tatsache ist, dass La Niña nun schon das dritte Jahr in Folge aktiv ist. Aber direkte Auswirkungen auf das Wetter in Europa sind nicht nachweisbar, das betrifft eher die USA. Wir liegen so weit entfernt, bei uns spielt eher der Polarwirbel eine Rolle.
War es eigentlich kühn, Anfang der 1980er-Jahre in Kärnten den Mölltaler Gletscher als südseitiges Skigebiet ab 2.800 Metern Höhe zu erschließen?
Dort ist der Gletscher so gut wie weg. Ich kenne noch Bilder aus dieser Zeit, da war er relativ zusammengewachsen. Aber in der letzten Dekade hat die Eismasse sehr stark abgenommen, der obere Teil wird in wenigen Jahren ganz verschwunden sein. Die Zeit dieses Gletschers ist im Großen und Ganzen abgelaufen.
Viele Gletscher auf der Alpennordseite liegen im Bereich der inneralpinen Trockenzone.
Und dadurch werden auch immer mehr Anpassungen nötig sein. Eine unterbrochene oder verzögerte Saison wie heuer wird immer häufiger sein. Es wird auch ein Problem, die Liftstützen in Betrieb zu halten, immer mehr werden auf Fels statt auf Eis stehen. Ein weiteres Problem sind die Zubringerstraßen ...
... wie zum Beispiel im Kaunertal ...
Es ist eine der großen Baustellen derzeit, die Straßen zu retten, auch durch den auftauenden Permafrost. Es gibt immer mehr Steinschläge und Bergstürze.
... 16 Jahre später ist das meiste Gletschereis verschwunden, am Wochenende wird auf Depot- und Kunstschnee gefahren
Kommen wir von den langfristigen Aussichten zu den kurzfristigen: Wie wird das Wetter am Wochenende beim Weltcup-Auftakt in Sölden?
Am Samstag wird es unbeständig mit schlechter Sicht und dichten Wolken, es wird Niederschlag geben. Die Nullgradgrenze liegt bei etwa 2.500 Metern, so fällt immerhin auch im Ziel noch Schnee, wenn auch feuchter Schnee. Für Sonntag ist Besserung in Sicht, es gibt harmlose hohe Wolken und zeitweise Sonnenschein, im Ziel erwarten wir dann aber schon wieder bis zu neun Grad plus.
Und das in 2.670 Metern Höhe.
Die Nullgradgrenze wird bei 3.700 bis 3.800 Metern liegen, ja.
Am Samstag soll auch die Schneekontrolle für das Speed-Opening in Zermatt und Cervinia am nächsten Wochenende erfolgen. Speziell die letzten 300 Meter der neuen Piste „Gran Becca“ bis ins Ziel auf 2.800 Metern müssen noch beschneit werden, weil der Depotschnee aus dem letzten Winter nicht ausreicht. Ihre Prognose?
Unter 3.000 Metern wird es schwierig. Die Nullgradgrenze liegt immer um 3.000 und teils sogar bei 3.500 Metern, ein nennenswerter Kaltluftvorstoß ist nicht in Sicht. Das ist ja das Paradoxon im Herbst: In den Tallagen sammelt sich nachts die kalte Luft, das funktioniert auf den Berggipfeln aber nicht. Und deswegen ist es dann in der Höhe oft wärmer als unten. Für den Herbst ist das eine ganz typische Situation.
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