Reinfrieds Ritt auf der Rasierklinge
Es gibt Prognosen, die stimmen dann doch: Pünktlich um 7.45 Uhr begann es am Freitag in Val d’Isère zu schneien. Bis zu 60 Zentimeter Neuschnee wurden bis Samstagmittag erwartet. Die zweite Ladung Neuschnee innerhalb von fünf Tagen stellte das Team um OK-Chef Emmanuel Couder vor eine Aufgabe von Herkules-Ausmaßen. Am späten Freitagnachmittag reagierten die Verantwortlichen und legten den Start des Herren-Slaloms um vier Stunden nach hinten auf 14 Uhr (live ORFeins, Eurosport, SF2, zweiter Durchgang 17 Uhr). Zudem entschloss man sich wegen der heftigen Schneefälle auch, die Strecke des für Sonntag (9.30/12.30 Uhr) anberaumten Herren-Riesentorlaufs zu verkürzen. Der Start wird nach unten verlegt.
Außerdem wurde am Freitagabend in Val d'Isere eine einstündige Ausgangssperre verhängt, weil umfassende Lawinensprengungen vorgenommen werden mussten. Das betraf auch die Zufahrtsstraße, womit sich auch die Anreise der österreichischen Rennläufer weiter verzögerte. Die per Flugzeug angereisten Marcel Hirscher, Mario Matt, Benjamin Raich, Manfred Pranger, Hannes Reichelt, Philipp Schörghofer und Romed Baumann mussten in Zürich landen, von wo sie per Zug nach Genf weiterfuhren. Die finale Autofahrt nach Hochsavoyen verzögerte sich jedoch. Es war unsicher, ob die ÖSV-Athleten ihr Ziel Freitagabend noch erreichen würden. Für die Nacht von Freitag auf Samstag waren weitere 25 Zentimeter Neuschnee prognostiziert.
Für Reinfried Herbst war schon beim Einfahren am Freitagmorgen klar, dass auch auf die Fahrer ein schwieriger Tag warten würde. „An der Face de la Bellevarde ist das Licht immer sehr flach“, sagte der Salzburger Slalomspezialist, „und der Hang ist nicht gerade mein Freund.“ Drei Mal versuchte Herbst den Berg zu bezwingen, einmal wurde das Rennen abgesagt (Schneesturm), zwei Mal ist er ausgeschieden. „Es ist einer der schönsten, aber auch einer der schwierigsten Hänge“, sagt Herbst; die Dosierung entscheidet über Podest oder Ausfall. „Ich hab’ einmal vom Start weg Vollgas gegeben, am dritten Tor war ich weg.“
Dosierung ist das Gebot der Stunde für den 34-Jährigen: Um seine lädierten Knie zu schonen, muss sich Herbst mit deutlich geringeren Trainingsumfängen als die Konkurrenz begnügen. Vor allem das linke macht immer wieder Sorgen, es wurde aber auch schon sieben Mal operiert (letztmals im heurigen Sommer, als beim Krafttraining ein Stück Knorpel abgebrochen ist) – im Gegensatz zum rechten, bei dem der Zähler erst auf zwei steht.
Und so war die vergangene Woche beispielhaft: Montag, Dienstag Training, Mittwoch, Donnerstag frei, Freitag einfahren für das Rennen am Samstag. „Ich muss meinem Körper eine Chance zur Regeneration geben“, sagt Herbst und fügt an: „Ich fahr’ inzwischen mehr Kilometer zu meinen Therapeuten als zum Skitraining.“
Überraschungen
Für Reinfried Herbst gilt vor allem eines in diesen Wochen: nicht stürzen. Es ist ein Ritt auf der Rasierklinge, und das dazu in jener Disziplin, die die schnellsten Bewegungen erfordert. Das weiß auch Herbst, und doch kommt er manchmal aus dem Staunen nicht heraus, wenn er High-Speed-Videoaufnahmen von sich und seinen Kollegen betrachtet. „Denn erst dann sieht man, unter welchen Bedingungen wir welche Winkel im Knie haben. Beim Fahren spürst du das ja gar nicht.“
Umso erfreuter war er nach seinem sechsten Platz von Levi, vor allem ob der Laufbestzeit im zweiten Durchgang. „Wobei: Ich kann nicht jeden Lauf so fahren wie diesen. Für mich zählt vor allem, dass ich zeige, was ich draufhab’, das ist für den Kopf wichtig.“ Ruhiger, gelassener sei er geworden in den letzten Monaten, sagt der Salzburger, und dann offenbart er, dass nach seinem Sturz im Jänner die Karriere auf der Kippe gestanden war.
Ein Knochenabbruch in der rechten Schulter hätte eine umgehende Operation erfordert, weil die Gefahr bestand, dass die Bizepssehne an der Bruchkante aufgescheuert wird – oder gar bei einem weiteren Sturz abreißt. Herbst nahm dieses Risiko in Kauf, fuhr noch in Kitzbühel und Schladming, schluckte Schmerzmittel, verschloss die Schnallen der Skischuhe nur noch mit dem linken Arm – und behielt die Warnungen für sich. Auch Freundin Manuela gegenüber: „Ich hab’ ihr gesagt, ich hätte eine Prellung. Und sie hat sich oft gewundert, warum so eine Prellung so wehtun kann und warum ich so schlecht schlafe. Aber es hat sich gezeigt, dass ich alles richtig gemacht habe.“
Was niemand wusste, konnte nie Thema werden; Herbst verdrängte die Gefahr des abrupten Karriereendes. „Wie ich dann nach dem letzten Slalom heil heimfahren konnte, war ich nur noch froh. Aber was hätte ich auch anders machen sollen? Wär’ ich sofort operieren gegangen, hätte ich jetzt eine Startnummer zwischen 50 und 60 statt einer unter den besten 30, und dann hätte ich die WM in Schladming vergessen können.“ Das tut er auch jetzt. „Ich denke nur von Rennen zu Rennen. Doktor Fink hat zu mir gesagt, ich soll genießen, dass ich noch Rennen fahren kann. Und das mach’ ich."
Materialwechsel
Der Materialwechsel im Sommer, den er in Punkto Schuhe seit einem Test im vergangenen Herbst herbeigesehnt hatte, trägt viel zum neuen Wohlgefühl bei. „Dieser Schuh passt einfach besser zu meinem schnellen Schwung, zu meiner Technik. Das alte Material war beileibe nicht schlecht, bei anderen hat es auch tadellos funktioniert – aber es hat für mich nicht mehr gepasst. Fünf Jahre war es super, aber dann...“
24 Trainingstage hat Reinfried Herbst nun absolviert, „die anderen haben das Doppelte. Aber es geht nur so. Und ich achte jetzt eben mehr auf Qualität, zudem hilft mir die Erfahrung.“ Weniger, sagt Herbst noch, „weniger ist in meinem Fall mehr.“ Und stapft hinaus in die weiße Wand, die inzwischen vor dem Hotel hängt, um ein paar Schwünge in den Pulverschnee zu ziehen.
Stefan Sigwarth berichtet aus Val d'Isere.
Am 13. Dezember 2009 hat er in Val d'Isere als 20-Jähriger im Riesentorlauf den ersten Weltcup-Sieg seiner Karriere gefeiert. Am 12. Dezember 2010 folgte ebendort der Premierenerfolg im Slalom. Auch in der Super-Kombination hat Marcel Hirscher seine beiden Podestränge in Savoyen eingefahren. Der Gesamtweltcupsieger kehrt also mit guten Erinnerungen und Gefühlen in den WM-Ort von 2009 zurück, in dem er am Samstag einen Slalom (10.00/13.00 Uhr) und am Sonntag einen Riesentorlauf (9.30/12.30) bestreiten wird.
Die technisch anspruchsvolle Face de Bellevarde liegt Hirscher wie kaum ein anderer Berg, nur knapp verpasste er mit einem vierten Rang bei der WM 2009 im Riesentorlauf eine Medaille. "Jedes Antreten war außergewöhnlich gut, egal ob im Weltcup in Super-Kombination, Riesentorlauf und Slalom oder bei der Weltmeisterschaft. Ich habe einfach so viele positive Erinnerungen. Die Premierensiege in meinen beiden Disziplinen in Val d'Isere zu feiern, ist was ganz Spezielles. Viel schwerer wird Skifahren nicht mehr als hier", erzählte der 23-Jährige der APA.
Nach dem Premierensieg 2009 hatte Hirscher im Zielraum erzählt, was er am Start gedacht habe: "Kleiner Bub, gib Gas!", verriet er damals. "Das war schon eine große Auszeichnung damals. Das war schon gewaltig, dort zu gewinnen, denn es ist mitunter der anspruchsvollste Riesentorlauf der ganzen Saison. Die Steilheit des Geländes und auch die Länge machen das Rennen so extrem schwer", beschreibt der Verteidiger der Großen Kristallkugel die Besonderheiten. Mehr Schwierigkeiten als in der Vergangenheit die Strecke bereitet Hirscher die Anreise nach Val d'Isere. Sein in Salzburg gestarteter Flieger konnte in Genf wegen der Schneemassen nicht landen, Hirscher stieg in Zürich aus. Von dort geht es nun mit dem Zug Richtung Genf und dann mit dem Auto weiter. Hirscher wird durch die erschwerte Anreise vier Stunden später als ursprünglich geplant in Val d'Isere erwartet.
Wohlfühlfaktor
Wegen Schneemangels waren die Rennen in Val d'Isere 2011 abgesagt worden, damit ist Hirscher mit seinen Slalom-Sieg 2010 der Titelverteidiger. Den letzten Riesentorlauf hat der US-Amerikaner Ted Ligety gewonnen, der nach seinen Husarenstücken in Sölden (3,12 Sekunden Vorsprung auf den drittplatzierten Hirscher) und Beaver Creek (1,76 auf den zweitplatzierten Hirscher) auch am Sonntag der Topfavorit ist.
Hirscher wird für die Aufgabe, den ersten Saisonsieg einzufahren, gewappnet sein. Und in Val d'Isere geht sowieso alles noch einmal ein bisserl leichter. "Es gefällt mir hier, wir sind mitten in den Bergen, das Dorf ist nett reingebaut, es ist ein Traumskigebiet und hat einen gewissen Charme. Ich habe eigentlich kein Ranking der Weltcuporte, aber dort, wo man gut fährt, ist man immer wieder gern. Egal ob es regnet, schneit oder die Sonne scheint. Hier habe ich so ein schönes Gefühl, hier scheint alleweil die Sonne."
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