Olympia - Blick nach Norden: Grenzwertige Grenzerfahrung
Mit einem Schlag wird es ruhig im Bus. Eben hatte noch ein US-Amerikaner gewitzelt, ob man denn bei guter Sicht vielleicht sogar den Kim zu Gesicht bekommen würde. Aber jetzt ist niemandem mehr zum Scherzen zumute. Denn da vorne ist der Checkpoint, das streng bewachte Tor zum nördlichsten Teil von Südkorea. Von hier sind es nur mehr wenige Kilometer bis zum 38. Breitengrad, bis zum berüchtigten Grenzstreifen, der den Süden vom Norden der Halbinsel trennt. Von Nordkorea. Jenem mysteriösen Land also, das sich seit 1953 formell mit Südkorea im Kriegszustand befindet und dessen unberechenbarer Präsident Kim Jong-Un ausgerechnet am Tag vor der Olympia-Eröffnung in PyeongChang in der Hauptstadt Pjöngjang eine große Waffenparade abhalten lässt.
Der Busfahrer ist angehalten, mit maximal 60 km/h durch das militärische Sperrgebiet zu fahren. Und kein km/h schneller. Aufnahmen von Soldaten sind strengstens untersagt, genauso Schnappschüsse von Kasernengebäuden, Waffenanlagen, militärischen Fahrzeugen und überhaupt allem, was mit dem südkoreanischen Heer in Verbindung gebracht werden kann. Es heißt, dass 70 Prozent des Militärs entlang der DMZ, der demilitarisierten Zone, die 248 Kilometer quer durch die koreanische Halbinsel führt, stationiert sind. Und Südkorea hat immerhin 600.000 Soldaten.
Vielleicht war es doch keine so gute Idee, an diesen Ort zu kommen.
Freier Blick
Nur wegen Olympia habe man dieses streng abgeschirmte Areal geöffnet, hat Reiseleiterin Sonya gesagt. Nur wenigen Journalisten und Mitgliedern der olympischen Familie würde jeden Tag Einlass zum Geumgangsan Observatory gewährt, von dem aus man freie Sicht nach Nordkorea hat, hatte es im Prospekt geheißen. Das klingt spannend und faszinierend zugleich, hört sich nach einer einzigartigen Grenzerfahrung an und einer abenteuerlichen Abwechslung im olympischen Alltag.
Doch je näher Nordkorea und die Grenze kommen, desto weiter rücken Angst und Aufregung in die Ferne. Ja, es kommt irgendwann sogar der Punkt, an dem die angeblich gefährlichste Zone der koreanischen Halbinsel, manche behaupten sogar der ganzen Welt, völlig seine Bedrohung verliert und sich der geblendete Besucher eher in einem billigen Film wähnt. Jedenfalls nie und nimmer Auge in Auge mit dem Feind.
Wie ist es sonst zu verstehen, wenn pünktlich zum Eintreffen der unbedarften Reisegruppe auf der Aussichtsplattform ein lauter Trommelwirbel erfolgt und junge koreanische Männer in Tracht eine Musik- und Theater-Show abziehen. Und dabei demonstrativ in Richtung Norden blicken. Angst scheint hier niemand zu haben. Höchstens, dass die Gäste zu wenige Souvenirs mitnehmen. Koreanerinnen, die aussehen, als wären sie schon beim Ausbruch des Korea-Krieges nicht mehr die Jüngsten gewesen, bieten goldenen Schmuck an. Einen Stand weiter gibt es Schnaps aus Pilzen und getrocknete Fische. Und überall sind fixe Fernrohre installiert, mit denen man für 500 Won (40 Cent) einen Blick zum Nachbarn werfen kann. Von "Blick riskieren" kann ohnehin keine Rede sein.
Die Chance, dabei einen Geier oder einen Luchs zu erspähen, die hier heimisch sind, ist jedenfalls größer als einen Soldaten auszumachen – geschweige einen Nordkoreaner. Die wohnen alle hinter dem Bergkamm und sind nicht zu sehen. Nur hören kann man sie manchmal, dann senden sie mit riesigen Lautsprechern ihre Propaganda-Botschaften Richtung Süden. Die südkoreanischen Soldaten lassen über ihre Lautsprecheranlage als Antwort gerne K-Pop erklingen, 24 Kilometer weit nach Nordkorea soll die Musik noch zu hören sein, verraten sie im DMZ-Museum.
Fiktives Minenfeld
Denn ein modernes Museum gibt es am gefährlichsten Ort des Landes, den angeblich kaum jemand besuchen darf, mittlerweile natürlich auch. Auf zwei Etagen wird hier ausführlich die Geschichte des Korea-Konflikts erzählt. Das DMZ-Museum ist wie alles hier eine kleine Erlebniswelt. Wer will, kann sich beim Balancieren über ein fiktives Minenfeld versuchen. Bei jedem Fehltritt kracht und blitzt es. Einer der Reporter fühlt sich an Disneyland erinnert. Das eigentlich Schlimme ist ja: Dieser Ort hätte diese übertriebene Inszenierung gar nicht nötig.
Der Streifen zwischen Süd- und Nordkorea hinterlässt auch ohne Trommelwirbel und Minenspiel einen bleibenden Eindruck. Die Straße, die irgendwo im nirgendwo endet. Die Zuggleise, die beide Länder verbinden, die aber nur einmal im Jahr 2007 befahren wurden. Der fast schon kitschige, wunderschöne Strandabschnitt im Grenzgebiet, der durch hohe Stacheldrahtzäune abgeschirmt wird. Und über allem: Die bloße Vorstellung, dass wenige Kilometer nördlich ein Land, ein Regime ist, das nicht von dieser Welt zu sein scheint.
Schon in einigen Monaten wird der nördlichste Ort Südkoreas übrigens um eine weitere Attraktion reicher sein. Neben dem Geumgangsan Observatory wird gerade eine neue Aussichtsplattform errichtet, die noch deutlich höher ist und damit noch weiter nach Nordkorea blicken lassen soll.
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