Sigi Bergmann: Der Herr der Ringkämpfe

Sigi Bergmann: "Ich möchte mich nicht gehen lassen."
Sigi Bergmann kommentiert in Rio alle Boxkämpfe für den ORF. Warum diese Strapazen mit 78? "Weil ich in meinem Alter einen ständigen Kampf gegen das Verblöden führe", sagt er.

In der Boxhalle ist ein Wirbel, vergleichbar mit einem Zug, der über eine Brücke aus Stahl donnert. Unten bearbeiten einander zwei Leichtgewichtsboxer, auf den Rängen brüllen die Zuschauer und trampeln mit den Füßen auf den Stahlrohr-Tribünen herum. Ganz oben auf der Tribüne der TV-Kommentatoren sitzt ein alter, weißhaariger Mann neben einem Monitor, vertieft in seine Unterlagen, und ärgert sich: "Was soll das Getrampel? Das ist ja nicht Hollywood!"

Reporter-Legende Sigi Bergmann, 78, kommentiert für den ORF seine 20. Olympischen Spiele. Er sagt schöne Sätze wie: "Er kommt wie ein Schlachtschiff daher" und verwendet wunderbare Wörter wie "Physiognomie".

Nach zwei weiteren Kämpfen ist die Vormittagssession beendet. Bergmann nimmt die Kopfhörer ab, packt seine Sachen, verlässt mit seinem Trolley die Pressetribüne und marschiert ins Freie. Es dauert ein paar Sekunden, bis sich die Augen an die grelle Sonne gewöhnt haben. Dann sagt er: "Schön ist es hier. Aber von Rio sehe ich nichts."

Dafür sieht er 264 Kämpfe. Alle – von der Vorrunde bis zum Finale im Superschwergewicht am Sonntag.

Abgenabelt

Soeben hat er den 154. Kampf in Rio gesehen. 154 Duelle im Ring. Und er hat jedes einzelne davon live kommentiert. Gezeigt wurden sie live oder als Aufzeichnung, die meisten aber gar nicht. Jeden Tag steht er vor sechs Uhr auf, danach bereitet er sich mit einer Assistentin im Hauptpressezentrum auf die Kämpfe vor, dann geht es in die Halle. Gegen Mitternacht ist er wieder im Hotel. "Ich sehe nichts von Rio und nichts von Olympia. Olympisch verblöde ich. Aber wenn man so boxversessen ist wie ich, hat man nichts anderes verdient."

20 Olympische Spiele, tausende Geschichten. Zuerst (und am liebsten) erzählt Bergmann über die aktuellen Boxer; über die zwei Profis, die erstmals dabei sein durften – und verloren haben; über eine Irin, die auch in der Fußball-Nationalmannschaft spielt; über die Kubaner, die "plötzlich wieder da sind"; über "tolle Persönlichkeiten".

Natürlich könnte er bei insgesamt 264 Kämpfen irgendwelche Geschichten erfinden, "aber das würde ich nie tun. Das wäre nicht im Sinne des Journalismus."

Bergmann hat den Journalismus geprägt, vor allem den Sportjournalismus. 1968 wurde er beim ORF angestellt, "Sport am Montag" war sein Kind. Von Februar 1975 bis März 1992 moderierte er die Sendung, die sich nicht ausschließlich um den Sport drehte. "Ich wollte ja eigentlich Opernsänger werden", sagt er. "Aber was ich gemacht habe, kann auch eine künstlerische Arbeit sein. Das Interesse für Kultur habe ich in meine Sendungen einfließen lassen." Sogar Placido Domingo und José Carreras hatten in der Sendung ihre Auftritte. "Als Orsolics k.o. gegangen ist, habe ich die Todesmusik aus ,Tosca‘ gespielt."

Es sind viele Erinnerungen, die er hat. Olympische Erinnerungen. Auch welche von Winterspielen. Den Rodlern galt all seine Sympathie. "Ich war immer auf der Seite der Verlierer. Deshalb war ich auch immer für die Rodler, die so aufopfernd gekämpft haben. Wir hatten da eine Million Zuschauer im ORF."

Blut und Lächeln

Die schönste Erinnerung ist jene an die Olympischen Spiele in Seoul 1988: Der damals 50-jährige Kommentator Sigi Bergmann und die 17-jährige Tochter Elisabeth, Olympia-Teilnehmerin in der Rhythmischen Sportgymnastik. "Ich habe damals genau am Boxring kommentiert, und am Monitor habe ich mir meine Tochter angeschaut. Vor mir haben sich zwei Berserker geprügelt, das Blut ist gespritzt. Und ich habe ein seliges Lächeln im Gesicht gehabt."

Abgesehen davon hatte Österreich einen Schwergewichtsboxer am Start. Als Biko Botowamungo in der ersten Runde gegen den späteren Schwergewichtsweltmeister Riddick Bowe k.o. ging, kommentierte Bergmann kurz und knapp: "Biko. Aus."

Schon damals war die Diabetes ein ständiger Begleiter, von den Messungen des Blutzuckerspiegels sind seine Fingerkuppen zerstochen. "Seit 48 Jahren ist das Insulin mein Lebensretter." Manchmal, wenn es sein muss, spritzt er sich die Substanz sogar, während er einen Kampf moderiert. Und natürlich zehrt eine Großveranstaltung wie die Olympischen Spiele an den Kräften. Besonders an den Kräften eines 78-Jährigen. Dies wirft die Frage auf: Warum tut man sich in diesem Alter diese Strapazen noch an?

Gehirntraining

"Weil ich in meinem Alter einen ständigen Kampf gegen das Verblöden führe. Ich möchte mich nicht gehen lassen. Es ist gut, sich noch einmal einem Zwang zu unterwerfen." Außerdem hat er viel von der Welt gesehen, Sigi Bergmann war allein 20 Mal in Las Vegas. "Aber nicht, weil ich ein Gambler bin. Nur wegen der Boxer."

Ob Rio seine 20. und letzten Olympischen Spiele sein werden? Oder ob er sich vielleicht in Tokio 2020 noch einmal diesem Zwang unterwerfen wird?

"Ah, geh! Wer will schon einen 82-jährigen Sportreporter?"

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