14.900 Menschen dicht gedrängt rund um den Centre Court am Schlusstag in Wimbledon. Und wenige Stunden später 16 Kilometer nördlich 61.000 im Wembley. In London. Just dort, wo die Zahl der Delta-Infizierten europaweit am höchsten ist. Aber Gastgeber Boris Johnson ist Spezialist für haarige Angelegenheiten. Great Britain’s first Struwwelpeter und gewinnorientierte Veranstalter gehen offensichtlich davon aus, dass das Virus am Finaltag Pause macht.
In elf Ländern galten völlig konträre Covid-bedingte Zuschauerlimits. Auch mit den höchsten TV-Quoten und den meisten Toren wird die Corona-EM in die Sporthistorie eingehen. In Wahrheit gebührt allen vier Semifinalisten der Titel:
den Dänen, weil sie wieder einmal bewiesen, dass eine kleine Nation im Konzert der Großen mitgeigen kann;
den Spaniern, weil sie auch ohne einen einzigen Real-Star dank ihrer technischen Fähigkeiten die Champions im (zuweilen allerdings oft schon faden) Ballbesitz-Fußball sind;
den Italienern, weil ihnen unter Coach Roberto Mancini (der in den letzten drei Jahren nicht weniger als 76 Mann getestet hatte) die Abkehr vom traditionellen Catenaccio hin zu attraktivem Offensivfußball gelang;
und den englischen Spielern, die im Fall des Titelgewinns das 11,2-Millionen-Euro-Preisgeld der im Kampf gegen Corona engagierten Gesundheitsbehörde National Health Service spenden würden.
Details entscheiden
Weil’s an der Spitze immer enger wird, unterscheiden nur noch Kleinigkeiten über Triumph oder Tragödie. Ein Elfer, eine umstrittene Schiri-Entscheidung, ein zum Eigentor abgefälschter Schluss.
Wie gut für den Fußball, dass es bei aller Athletik konträr zu anderen Sportarten auf die Körpermaße allein nicht ankommt, dass Lorenzo Insigne zu einem der EM-Stars wurde, obwohl der Italiener 37 Zentimeter kleiner als ÖFB-Zwei-Meter-Mann Sasa Kalajdzic ist, der die italienische Torsperre nach 1.139 Minuten brach.
Wie erfreulich und zugleich unglaublich, dass man bereits darüber diskutiert, ob Inter Mailands dänischer Spielmacher Christian Eriksen seine Karriere bei einem anderen Klub fortsetzt, zumal in Italien für Spieler mit Herzschrittmacher Spielverbot herrscht.
Das Timing entscheidet
Eriksen verdankt es nur Rettungskräften, die innerhalb der entscheidenden ersten sechs Minuten richtig reagierten, dass er noch lebt oder ihm ein Schicksal wie dem holländischen Ausnahmetalent Abdelhak Nouri erspart bleibt. Der damals 20-Jährige war im Juli 2017 im Zillertal beim Testspiel Ajax – Bremen zusammengebrochen und befindet sich seither im Dämmerzustand.
Der Fall Eriksen hat, weil zig Millionen TV-Zuseher zu Zeugen von Kollaps und Erstversorgung wurden, ungleich mehr Entsetzen ausgelöst. Auch Empörung, weil die Fernsehbilder den Voyeurismus bedienten.
ORF-Stiftungsrat Ernst Leo Marboe warf dem ORF vor, das erste dänische EM-Spiel gegen Finnland (0:1) weiter übertragen anstatt alternativ einen Film gezeigt zu haben. Manche forderten gar den EM-Abbruch und einen ORF-Verzicht auf Fußball.
Bei der nächsten EM brauchen sich diese Kritiker gar nicht erst in die Niederungen des Sports hinab zu begeben. Und sich über zu viel ORF-Kick beschweren. Die EM 2024 in Deutschland wird nicht mehr im ORF zu sehen sein. Die Übertragungsrechte hat sich Servus TV gesichert. Ohne Geld der Gebührenzahler.
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