Ruttensteiner: "Wer das Visier hochklappt, wird zum EM-Champion"

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Ballbesitz und die Anzahl von Pässen garantieren längst keinen Erfolg mehr. Die EM brachte ein Revival des klassischen Mittelstürmers.

Eine Kolumne von Willi Ruttensteiner

Nach Abschluss der EM-Gruppenphase fand vor zwei Tagen ein Online-Meeting der Studiengruppe der UEFA statt. Dabei wurden die Analysen der Technical Observer diskutiert und erste Trends und Erkenntnisse formuliert.

24 Nationen, also fast die Hälfte aller Mitglieder, qualifizieren sich für die EM – davon steigen 66 % ins Achtelfinale auf. Die EURO nimmt daher erst mit den Knock-out-Matches so richtig Fahrt auf, dieser Modus sollte zumindest hinterfragt werden. Auffallend: Es gab bisher extrem viele Fehler in der Defensive. Der Grund liegt allerdings nicht in taktischen Schwächen oder in der mangelnden Qualität der Spieler, sondern in der zu kurzen Vorbereitungszeit aufs Turnier und in der augenscheinlichen Müdigkeit der Mannschaften, deren Akkus nach einer komprimierten Saison leer sind.

Viele Finalspiele

99 Tore fielen in der Gruppenphase: In Runde eins 28, in Runde zwei 27 und in der letzten eine massive Steigerung auf 39. Die Erklärung ist simpel – Runde drei hatte für viele Finalcharakter, die zuvor risikolose Taktik wurde von den Trainern über Bord geworfen. Zwölf Teams agierten mit einer Dreierkette in der Abwehr, zwölf mit Viererkette – in den Niederlanden fand dabei mit der Abkehr vom 4-3-3 fast eine Kulturrevolution statt. Und immerhin elf Tore wurden von Flügelspielern erzielt.

Ballbesitz und die Anzahl von Pässen garantieren längst keinen Erfolg mehr. Bei Türkei – Wales hatten die Türken 62 % Ballbesitz, aber die Waliser waren in den gefährlichen Zonen öfter am Ball. Beim Thema Pressing und Umschaltverhalten ist es erstaunlich, wie wenige Teams auf Angriffspressing bauen. Der Großteil hat tief verteidigt und im schnellen Umschalten den Erfolg gesucht. Bei früheren Turnieren und besonders in der Champions League wurde deutlich höher verteidigt und gepresst.

Euro 2020 - Round of 16 - France v Switzerland

Spannend liest sich die Statistik, wie viele Pässe Mannschaften dem Gegner bis zur Rückeroberung des Balles erlauben: Spanien führt mit nur acht Pässen, Frankreich liegt im hinteren Drittel, Österreich auf Rang 7 – ein Beweis, dass die Foda-Elf über dem Durchschnitt hoch verteidigt hat. Schlusslicht sind hier die Ungarn, die konsequent mit fünf Verteidigern zugewartet haben.

Italien war beim Gegenpressing herausragend – die Mannschaft von Mancini gab dem Gegner in den ersten fünf Sekunden nach Ballverlust keine Atempause, um von Defensive auf Offensive umzuschalten. Dazu ist eine extrem hohe Intensität nötig.

Dass Tore zu 30 bis 40 % aus Standards fallen, ergibt keine signifikante Änderung zu früheren Endrunden – nur die sieben vergebenen (von 15) Elfern fallen völlig aus dem Rahmen.

Der Neuner ist zurück

Die erste paneuropäische EM brachte ein Revival des klassischen Mittelstürmers: Benzema, Ylmaz, Lukaku, Moore, Szalai, Kane, Dykes und aktuell natürlich Frankreichs Albtraum Haris Seferovic – viele Teams bauen auf körperlich präsente Neuner, die als Zielspieler fungieren.

Der Typ des Spielmachers bekannter Prägung ist hingegen nicht mehr gefragt: Es brillieren flexible Organisatoren wie Koke, Jorginho, Witsel, Freuler, Kalvin Phillips oder Höjbjerg, die sowohl offensiv, als auch defensiv Akzente setzen. Der rein offensive Zehner wird zum Auslaufmodell.

Und wie fast schon erwartet, brechen im Achtelfinale alle Dämme: 24 Tore in den ersten sechs Matches, drei Verlängerungen – die spektakulären Thriller Schweiz – Frankreich und Kroatien – Spanien werden nicht nur den Fans ewig in Erinnerung bleiben. Jetzt startet die EM richtig durch und es reicht nicht mehr, nur hinten dichtzumachen. Nur wer das Visier hochklappt, wird Champion.

Willi Ruttensteiner war von 2001 bis 2017 Sportdirektor des ÖFB und danach von Israel. Der 58-Jährige trainiert das Nationalteam Israels und ist ein Gegner der Österreicher in der anstehenden WM-Qualifikation.

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