Wie das Sommermärchen zum deutschen Albtraum wurde

Folgenschwer: Die Präsidenten Zwanziger und Niersbach traten zurück
Ein Volk, das sich wieder Fahne zeigen traute, eine Mannschaft, die man nicht mehr hassen konnte

WM 2006. Ein Volk, das sich wieder Fahne zeigen traute, eine Mannschaft, die man nicht mehr hassen konnte – und 6,7 Millionen Euro, die den Verband und die Ikone Beckenbauer ins Wanken brachten.

„Jogi, wir wollen ein neues Sommermärchen!“ So titelte die Bild-Zeitung vor dem EM-Auftakt des deutschen Nationalteams. Aber vielleicht sollte sich das Märchen doch nicht wiederholen, denn es wurde ein Albtraum aus der WM 2006, bei dem Löw als Co-Trainer von Jürgen Klinsmann arbeitete.

2006 war Deutschland im Rausch. „Die Welt zu Gast bei Freunden“ – wohl noch nie wurde ein WM-Motto so überzeugend umgesetzt. Freundlichkeit, Fröhlichkeit und Kreativität wurden allerorts gelebt. Weit über 32 Milliarden TV-Zuschauer weltweit nahmen Notiz von der größten Image- und Werbekampagne, die Deutschland je erlebt hat.

Sogar die deutsche Nationalmannschaft konnte man nicht mehr hassen. Die hatte mit Podolski und Schweinsteiger zwei echte Sympathieträger in ihren Reihen. Und sie spielte unter Jürgen Klinsmann durchaus attraktiv, nicht mehr den erfolgsorientierten Rumpelfußball der Vergangenheit.

Lobeshymnen

Am 9. Juli 2006 wurde die deutsche Nationalmannschaft nach dem 3:1 gegen Portugal im Spiel um Platz drei auf der Berliner Fan-Meile von einer halben Million Fans als „Weltmeister der Herzen“ gefeiert. Es war der emotionale Höhepunkt des Großereignisses, das Millionen während der vier Wochen in seinen Bann gezogen hatte. Sogar UN-Generalsekretär Kofi Annan lobte: „Auch wenn Deutschland nicht im Finale stand, hat es schon gewonnen, denn es hat die beste WM aller Zeiten ausgerichtet und die Nation in dieser Anstrengung vereint.“

Als die WM schließlich vorbei war und das ursprünglich auf 430 Millionen Euro kalkulierte Budget dank der nahezu 100-prozentigen Stadionauslastung um 20 Millionen Euro übertroffen wurde, herrschte allgemeine Jubelstimmung.

Die WM lieferte den Beweis dafür, dass auch die Deutschen euphorisch, ausgelassen und vor allem friedlich feiern können. „Es hat alles gepasst. Bei den Fanfesten haben unterschiedliche Ethnien, Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und Religionen nebeneinandergestanden. So stellt sich der liebe Gott die Welt vor, auch wenn wir in der Realität noch 100.000 Jahre davon entfernt sind“, resümierte Franz Beckenbauer.

Beckenbauer geklont?

Der war als Chef des Organisationskomitees das Gesicht, der Botschafter, für manche auch das Maskottchen dieser WM. Vor dem Turnier hatte er alle 31 übrigen Teilnehmerländer bereist, während der Endrunde war er mit einem Privathubschrauber unterwegs, um nur ja kein Spiel zu verpassen. Beckenbauer war omnipräsent, schien geklont. 15 Jahre danach ist er aus der Öffentlichkeit so gut wie verschwunden, lebt in seiner Blase in Kitzbühel.

Neun Jahre nach der WM schob sich eine schwarze Wolke vor die rot-goldene Sonne. Am 16. Oktober 2015 berichtete das Magazin Spiegel, die WM 2006 sei mutmaßlich gekauft worden. Beim Bewerbungskomitee soll es eine schwarze Kasse gegeben haben, die der damalige Adidas-Chef Robert Louis-Dreyfus heimlich mit 10,3 Millionen Schweizer Franken (6,7 Millionen Euro) gefüllt haben soll. Der DFB bestritt die Vorwürfe vehement. Franz Beckenbauer brach zehn Tage danach sein Schweigen und bezeichnete den Deal mit der FIFA bezüglich eines WM-Zuschusses als Fehler. Kurz danach trat Wolfgang Niersbach als DFB-Präsident zurück.

Im März 2020 wurde Beckenbauer und Kollegen in der Schweiz der Prozess gemacht. Doch der einstige Kaiser der Herzen fehlte auf der Anklagebank, weil er ein schwaches Herz hat. Auch Theo Zwanziger, geschäftsführender DFB-Präsident jener Tage tauchte in Bellinzona nicht auf. Er hatte es mit den Augen. Angeklagt waren auch der damalige DFB-Generalsekretär Horst R. Schmidt und der spätere DFB-Präsident Wolfgang Niersbach. Die Herren vom DFB sollen 2005 die 6,7 Millionen Euro aus der Verbandskasse genommen haben, um einen Kredit zu tilgen. Den hatte Beckenbauer 2002 als WM-OK-Chef privat aufgenommen, um es an den notorisch korrupten FIFA-Funktionär Mohamed Bin Hammam nach Katar zu schicken. Die Verwendung des Geldes wurde verschleiert. Angeblich beteiligte sich der DFB an einer Kulturgala, die der Weltverband zum WM-Auftakt veranstalten wollte.

Das Geld floss tatsächlich nach Zürich zur FIFA, ging am selben Tag aber noch weiter an Beckenbauers Kreditgeber, den französischen Milliardär Richard Louis-Dreyfus. Wegen dieses Umwegs ermittelten die Schweizer, die auch den Ex-FIFA-Generalsekretär Urs Linsi anklagten, der das Geld an den Franzosen weiterleitete.

Im September vor einem Jahr schien die Ethik-Kommission der FIFA den Verwendungszweck für den entscheidenden Zahlungsstrom des WM-Skandals gefunden haben. Chefermittlerin Maria Claudia Rojas schrieb von „Bestechungsgeld“.

Wie das Sommermärchen zum deutschen Albtraum wurde

Franz Beckenbauer tauchte ab 

Bestechung

Beckenbauer, heißt es unverblümt im Report, habe das von Louis-Dreyfus gewährte Darlehen genutzt, um „ein Bestechungsgeld an Mohamed bin Hammam im Austausch gegen die Gewährung des genannten finanziellen Zuschusses an das WM-OK“ zu bezahlen. Der Katarer war als Mitglied der FIFA-Finanzkommission damals zuständig für die Gewährung dieses Zuschusses. Beweise gibt es aber keine. Das FIFA-Gremium ist nicht die einzige Institution, die sich seit 2015 mit dem Zehn-Millionen-Franken-Mysterium auseinandergesetzt hat. Der DFB setzte anfänglich die Kanzlei Freshfields ein, die nicht wirklich weiterkam; aktuell lässt er diesen Vorgang noch einmal von der Berliner Beratungsfirma Esecon durchleuchten.

Verdächtige Notiz

Die Aktenlage legt einen ganz anderen Verwendungszweck nahe. Demnach ist am wahrscheinlichsten, dass das Geld in ein TV-Rechte-Geschäft im Umfeld der Gründung der Agentur Infront floss, die in jenem Sommer 2002 auf den Trümmern des insolvent gegangenen Kirch-Konzerns errichtet wurde und das Kronjuwel der FIFA erhielt: die Senderechte an der WM 2006. Dafür spricht insbesondere eine interne Notiz von Dreyfus’ Bankberaterin zum Zweck des Kreditkontos: Der Kunde habe einem Geschäftsfreund zehn Millionen Franken geliehen, um TV-Rechte aus dem Nachlass der Kirch-Gruppe zu erwerben. Und zwar dem Geschäftsfreund F. B., wie sich aus der Benennung des Kontos ergibt. F. B. wie Franz Beckenbauer.

In einem großen Geburtstagsinterview mit der Bild sagte Beckenbauer: „Mit all den Operationen und auch mit der Geschichte 2006. Das hat mich schon sehr mitgenommen. Ich sehe zwar, dass mittlerweile akzeptiert wird, dass da nichts war, aber die letzten Jahre waren hart.“

Der Prozess in der Schweiz wurde im April 2020 wegen Verjährung eingestellt. Im April 2021 folgte aus demselben Grund die FIFA mit ihrem Verfahren.

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