Von Realität & übertriebener Panikmache

Von Realität & übertriebener Panikmache
Ein Augenschein beweist: Nicht alle Vorurteile über die böse Ukraine haben einen wahren Kern.

Der Aufschrei war laut. Entsetzen machte sich breit. Über Michel Platini und seine Chefetage der UEFA, die ihre persönlichen Interessen befriedigt und die plötzliche Liebe zum Osten entdeckt hatten. Polen und die Ukraine als Veranstalter der EURO 2012 war am 18. April 2007 beschlossene Sache.

Der Ärger über die Beweggründe wurde irgendwann geschluckt, verdaut wurde jedoch nie, dass das weltweit zweitgrößte Fußballturnier aus der altbewährten Überschaubarkeit des Westens gekickt werden sollte.

Polen? Schlimm genug. Aber die Ukraine?

Nackter Wahnsinn.

Es begann die Geschichtsschreibung. Über die grundsätzliche Unfähigkeit der Ukraine, ein Land, das Menschenrechte mit Füßen tritt, über ein Volk von Hundemördern und Säufern, über Rassisten, über ausufernde Prostitution, über Korruption, über Abzocker , über Infrastruktur, die nur leeres Versprechen bleibt.

Vieles wurde seriös begründet, anderes allerdings war zu sensationsträchtig, um nicht medial auf Hochglanz gebracht zu werden. Richtig oder falsch – das sollte nicht mehr die Frage sein, gefüllt mit Klischees und Vorurteilen war der Rucksack, den der Besucher mit in die Ukraine schleppt.

Dies soll keine Beurteilung der Wirklichkeit sein. Unmöglich. Zulässig ist lediglich die Schilderung von Erlebnissen und Empfindungen nach zwei Wochen Aufenthalt in der Ukraine.

 

Böser Viktor

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Staatspräsident Viktor Janukowitsch dominiert die Berichterstattung vor den Parlamentswahlen Ende Oktober 2012. Er vermittelt auf Bildern den Eindruck eines in Wachs gegossenen Apparatschiks, der im Bedarfsfall künstlich zu lächeln vermag. Chancenlos in einer westlichen Persönlichkeitswahl, Sympathieträger sehen jedenfalls anders aus. Janukowitsch erscheint in der TV-Propaganda in fast jeder Fußball-Pause als Messias, der das Land aus dem ruinösen Dasein geführt hat. Im Hintergrund das Feindbild, die Umrisse von Julia Timoschenkos unverkennbarem Profil.

In politischen Gesprächen mit den Menschen wird Janukowitsch kein einziges Mal lobend erwähnt. Der junge Mann in Kiew meint: "Man kann immerhin öffentlich behaupten, dass Janukowitsch ein Arschloch ist, und es passiert einem nichts." Protestaktionen gegen den Staatspräsidenten finden statt. Auch auf der internationalen Bühne, die eine EURO bereitstellt. Ausdrückliche Kundgebungen für die inhaftierte Timoschenko fallen zumindest nicht auf.

Wie geschmiert

Mit Geld lässt sich in der Ukraine alles regeln. Heißt es. Könnte stimmen, zeigen die eigenen Erfahrungen. Als Tourist und willkommene Einkommensquelle der ukrainischen Polizei hat man Verkehrsdelikte mit einem Griff ins Geldbörsel schnell wieder glattgebügelt. Deutsch? Wird auch nicht erwartet. Doch beim etwas intensiveren Kontakt mit drei Ordnungshütern, stellte sich heraus, das alle einen deutschen Begriff in ihrem Wortschatz haben: "Strafe."

Gefälligkeiten nach kleinen Gegenleistungen gehören zum normalen Alltagsleben. F., Student in Lemberg und ab Herbst Studienanfänger in Wien, seufzt: "Jeder Bescheid, den ich von der Uni in Lemberg brauche, kostet mich umgerechnet 20 Euro." Mit 200 bis 300 Euro Monatsgehalt muss übrigens im Durchschnitt ein Büroangestellter das Auslangen finden.

 

Lebensgefährlich

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Die BBC brachte einen Bericht, in dem ein dunkelhäutiger Mann von Hooligans in Charkiw verprügelt wurde. Englands Ex-Kapitän warnte: "Fans sollten zu Hause bleiben, wenn sie nicht in einem Sarg zurückkommen wollen." Gewalttätige Aktionen der rechtsradikalen Ultras von Karpaty Lemberg sind belegt. In einer Straße der Stadt haben die Anhänger des Klubs ihr Zeichen auf eine Hausmauer gesprüht. Zusatz: White Power. Nachträglich wurde die beängstigende Schmiererei aber von Gegnern durchgestrichen. Während der EM wurde man mit dem Problem noch nie konfrontiert. Klargestellt sei: Die Fans des ukrainischen Nationalteams präsentierten sich bisher laut, aber nie aggressiv. Auch im Moment der gestrigen Niederlage.

 

Raubritter

Jammereien über überhöhte Preise suchen nach Bestätigung. Das Bier gibt’s in Lemberg um 60 Cent, eine Tasse Kaffee um 40. Paradiesische Verhältnisse für Besucher aus westlichen Gefilden. Innerhalb der Fanzone werden für das Krügel 2 Euro verlangt, eher ein Problem für ukrainische Besucher. Dass Hotelzimmer an Spieltagen teurer und schwer zu bekommen sind, liegt in der Natur der Sache. Sonst ist Essen und Schlafen stets zu moderaten Preisen zu haben.

Saufbolde

40 verschiedene Wodka-Hersteller gibt es im Land. Das alles will getrunken werden. Eine Studie kam zum Ergebnis: 30 Prozent der Männer zwischen 25 und 30 Jahren seien alkoholabhängig. Schlimm genug. Konfrontiert wird man damit so gut wie nie. Es torkeln keine Horden von Betrunkenen durch die Straßen. Eine Ausnahme gab’s in Kiew: drei grölende Männer in Orange, auf deren Rücken so etwas Ähnliches wie Niederlande stand.

Ruinöse Zustände

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Ja, es gibt sie, die katastrophalen Straßen, die größten Feinde des Stoßdämpfers. Ins Zentrum nach Lemberg führt beispielsweise Europas einzige Straße, die seit dem Mittelalter wohl keine Sanierung mehr erfahren hat. Der Hauptverkehrsweg nach Kiew hingegen ist nicht von Schlaglöchern verseucht, wie oft behauptet. Viele neue Straßenabschnitte sind dem ziemlich aktuellen Navigationsgerät noch fremd. Eine positive Wirkung dieser EURO. Warum in Lemberg und Kiew noch am Tag vor EM-Beginn vor den Stadien herumgebastelt wurde, bleibt ein Mysterium. Dass eine Zufahrtsstraße drei Stunden vor Eintreffen des Wiener EM-Catering-Unternehmens DO&CO asphaltiert werden musste, damit die Lemberg-Arena überhaupt erreichbar war, fällt unter falsch verstandenes Improvisationstalent.

Kontaktprobleme

Gewöhnungsbedürftig, wenn man in Kiews U-Bahn jedes zweite Mal gegen eine zurückschwingende Glastüre rennt. Die Menschen begegnen dem Fremden nie mit aufgesetztem Lächeln, sind freundlich, wenn es sein muss, hilfsbereit. Sprachbarrieren sind da, um mit Händen und Füßen überwunden zu werden. Das ist anfänglich anstrengend, doch im Laufe der Zeit irgendwie herzlich. Ehrlich ist es allemal.

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