Es läutet lange, bis am anderen Ende der Leitung jemand abhebt, doch dann ist es so weit: „Können wir noch kurz Smalltalk führen? Ich versuche, einen Ort zu finden, wo wenige Leute sind, damit ich Sie besser höre“, sagt der Herr freundlich. Nach kurzer Vorstellung steht fest: Die Nummer stimmt, Lars Lagerbäck persönlich ist dran. Und am hiesigen Ende der Leitung reift die Erkenntnis, dass man sogar auf Smalltalk schlecht oder überhaupt nicht vorbereitet sein kann.
Was tun? Den Mann jetzt fragen, ob er seinen Kaffee schwarz oder doch lieber mit Milch und Zucker trinkt? Der Gedanke erscheint absurd, also doch lieber gleich den Grund des Anrufs erläutern. Herr Lagerbäck erklärt sich bereit, ein Interview zu geben. Uns interessiert, wie man eine Fußballmannschaft bei Laune hält – über einen längeren Zeitraum, bei einem größeren Turnier. Niemand kann das besser wissen als er.
Sieben Mal hat der heute 72-Jährige ein Nationalteam zu einem großen Turnier geführt. Sein Heimatland zu den EUROs 2000, 2004 und 2008 sowie zu den Weltmeisterschaften 2002 und 2006. Zur WM 2010 nach Südafrika fuhr er, obwohl er mit Zlatan Ibrahimovic und Co. die Qualifikation nicht geschafft hatte. Doch Nigeria suchte kurz vor dem Turnier einen Coach, Lagerbäck sagte zu. Von 2011 bis 2016 betreute er schließlich Islands Team. Eine schmerzhafte Erfahrung für Österreich – 2016 besiegt Lagerbäck das ÖFB-Team 2:1 und führt sein Team bis ins Viertelfinale.
Welche Rolle spielt Erfahrung für ihn selbst? „Wissen Sie, ich war seit 1990 beim schwedischen Verband, und als ich selbst Teamchef wurde, dachte ich, ich hätte etwas erlebt und wüsste Bescheid. Heute weiß ich: Du lernst am meisten, wenn du selbst ganz vorne stehst und die Verantwortung trägst.“ Das war bei Lagerbäck erstmals bei der EM 2000 der Fall, als er mit Tommy Söderberg gleichberechtigt das Team coachte.
Und er hat gelernt. Nach der Vorrunde war Schluss. „Natürlich haben wir da Fehler gemacht, von denen ich heute sagen kann, dass sie mir danach nicht mehr passiert sind.“ Das muss in der Tat so gewesen sein. In Japan und Südkorea zwei Jahre später führt Lagerbäck die Schweden zum Gruppensieg vor England, Argentinien und Nigeria. Erst in der 104. Minute des Achtelfinales gegen Senegal beendet ein Golden Goal Schwedens Träume.
„Die größte Gefahr für einen Teamchef, der zum ersten Mal zu einer Endrunde fährt, ist, übermotiviert zu sein. Man will zu viel von allem.“ Wovon zum Beispiel? „Du hast die Spieler vor dem Turnier nur zwei Wochen bei dir, da kannst du nicht erwarten, die Spielweise zu ändern oder dir im physischen Bereich einen Vorsprung erarbeiten zu können.“
Ein großes Thema – wie bei den Österreichern, die am Montag frei hatten – ist es auch, die Köpfe immer wieder freizubekommen. „Ich habe bei Turnieren die Erfahrung gemacht, am Vormittag zu trainieren, um den Spielern am Nachmittag Freizeit geben zu können.“ Am Abend schärft Lagerbäck indes gerne wieder die Sinne „mit einer kurzen Videoanalyse“.
Auf die Bremse
Ein Phänomen, das Lagerbäck auch kennt, ist die oft bei kleineren Nationen entstehende Euphorie im Umfeld vor einer möglicherweise ersten Endrunde oder einer Teilnahme nach langer Durststrecke, wie etwa bei den Österreichern 2016. In solchen Fällen sei es wichtig, Realismus zu bewahren. „Du wirst ständig gefragt, was deine Ziele sind, und die Medien erklären dir, welche Resultate möglich wären. Da darfst du speziell in kleinen Ländern nicht müde werden zu betonen, dass man sich nur darauf konzentriert, möglichst 100 Prozent abzurufen.“
Eine andere Dynamik bekommen habe die Thematik in Schweden, als man sich für fünf Endrunden in Serie qualifiziert hat. „Bei der ersten oder zweiten waren die Menschen noch damit zufrieden, dabei zu sein. Ab der dritten wollten alle mehr. Da musst du mit den Spielern gut im Dialog sein, dass sie einerseits nicht zu viel Druck spüren und andererseits nicht glauben, dass sie besser wären als sie wirklich sind. Da geht es um Leadership.“
Die Erfahrung von Spielern, die nicht zum ersten Mal bei einer Endrunde sind, könne hilfreich sein. Wie es ihm umgekehrt gelungen ist, die Isländer bei ihrem ersten Turnier 2016 ins Viertelfinale zu führen? „Ganz ehrlich? Da hatte ich schon Zweifel, ob wir im ersten Spiel gegen Portugal bestehen können.“ Das 1:1 – eine Sensation für das 200.000-Einwohner-Land – habe eine Gruppe mit extrem starkem Teamgeist dann zusätzlich beflügelt. „Das Mentale spielt also eine große Rolle. Mit Erfahrung kann man diesen Part aber auch in die richtige Richtung lenken.“
Das erste Spiel könne entscheidend sein. Generell – nicht nur, wenn man wie am Sonntag die Österreicher einer Favoritenrolle gerecht werden muss. „Es ist für alle wichtig, nicht mit einer Niederlage zu starten und zumindest einen Punkt zu holen.“
Überraschungen
Das Telefonat dauert mittlerweile zehn Minuten, Lars Lagerbäck bleibt freundlich, geduldig und auskunftsbereit. Eine interessante Frage gilt es noch anzusprechen. Nämlich, welche Rolle es spielt, dass man in Zeiten stundenlanger Analysen noch ein Element im Köcher hat, mit dem man einen Gegner überraschen kann. Lagerbäck bremst: „Ich persönlich halte diese Möglichkeit für ein wenig überschätzt.“ Warum das denn? „Weil gerade Spieler auf hohem Niveau von großen Klubs aus großen Ligen es gewohnt sind, permanent gegen verschiedene Formationen, Systeme oder Spielanlagen zu spielen und von selbst adaptieren können.“ Wichtiger sei es, im Detail auf Stärken und Schwächen der Gegner vorbereitet zu sein.
Allerdings, sagt Lagerbäck, gebe es da doch einen Punkt, mit dem man überraschen kann: „Standardsituationen! Da kannst du viel analysieren und doch überrascht werden, weil du nie weißt, ob der Gegner wieder so agiert, wie zuletzt“, sagt jener Mann, dessen Isländer die Österreichern 2016 mit einem Tor aus einem Einwurf auf die Heimreise geschickt haben.
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