Tagebuch: Realitätsverlust

Wolfgang Winheim
Die Rapid-Ultras seien daran erinnert, dass der unbeliebte Wechsel ins Happel-Stadion eine Reaktion auf den Platzsturm im Hanappi-Stadion ist.

Es war im Oktober 1993, als der Boss der Bank Austria eine Fusion von Rapid mit der Austria vorschlug.

Weil der Schreiber dieser Zeilen die Idee realitätsfern nannte, erhielt er vom Chefredakteur einen Rüffel. Die im Brüllton vorgetragene Begründung: Ein Sportredakteur soll Kicker, niemals aber einen Bank-Generaldirektor kritisieren. Immerhin war der stellvertretende Chefredakteur anderer Meinung. Heute sind all die Herren nicht mehr in ihrem Amt.

Und der (inzwischen italienische) Eigentümer der Bank Austria sponsert nicht mehr Rapid, sondern die Champions League. Aber das Derby gibt es immer noch.

Zum Ärger des ORF werden Rapid und Austria ihr 300. Duell am Samstag austragen, an dem ausschließlich Sky live übertragen darf.

Und zum Ärger des harten Kerns des Rapid-Anhangs wird nicht im intimen Hanappi-Stadion, sondern im großen Happel-Stadion gespielt.

Die Ultras wollen zwar zum Derby erscheinen, auf ein Anfeuern ihrer Elf aber verzichten. Das ist eine legitime Form des Protestes. Trotzdem seien die Hardcore-Fans daran erinnert, dass der unbeliebte Wechsel ins (wegen seiner stimmungstötend breiten Laufbahn) sicherere Happel-Stadion eine (Straf-)Reaktion auf den letztjährigen Platzsturm im Hanappi-Stadion ist.

Wegen der dringend notwendigen Renovierung des Hanappi-Stadions muss sich der grüne Anhang bald sogar auf eine längerfristige Übersiedlung von Hütteldorf in den Prater gefasst machen. Den vielfach kolportierten Ausbau von St. Hanappi auf ein Fassungsvermögen von 17.000 auf 30.000 Zuschauer allerdings wird Rapid-Kapitän Steffen Hofmann (31) erst als Großvater erleben, sofern sich zuvor nicht doch ein ausländischer Großinvestor nach Hütteldorf verirrt.

Kein noch so sportfreundlicher Politiker kann im Moment Steuer-Millionen für einen Stadionausbau rechtfertigen, wenn zugleich bei Spitälern und Kindergärten gespart wird. Wahren Fußballfans wird auch das 500. Derby in einer Bruchbude lieber sein als eine Fusion.

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