Pirlo & der Blick fürs Wesentliche
Andrea Pirlo verkörpert den Inbegriff des Anti-Stars. Wenn er so dasteht bei der Hymne mit seinem Schlafzimmerblick und monoton die Lippen bewegt, fragt sich so mancher Zuschauer: Und was macht der Opa da? Pirlo ist tatsächlich alt. Fast schon ein Urgestein. Er wird am 19. Mai 34.
Im Gegensatz zu all den Schweinsteigers, Kloses, Podolskis und Lahms, die einer verlorenen Generation angehören und wohl nie einen EM- oder WM-Titel holen werden, ist Pirlo bereits Weltmeister. 2006 führte l’architetto, der Architekt, wie er in Italien genannt wird, sein Land zum Titel. In Deutschland. Mit genialen Zuspielen und Ideen, die ihm auch bei dieser EURO nicht ausgegangen sind.
Pirlo zieht jene Fäden im Mittelfeld, die seine Mitspieler berühmt werden lassen. Weil auf Anzeigetafeln und in Statistikbüchern nur die Torschützen vermerkt sind, und nicht die Assistenten. Mario Balotellis Stern würde ohne Pirlo wohl weniger hell strahlen; ebenso wenig wäre Juventus ohne Pirlo in der abgelaufenen Serie-A-Saison Meister geworden. Der AC Milan hatte den Mann, dem der Klub zwei Champions-League-Triumphe zu verdanken hat, nicht mehr haben wollen und nach Turin ziehen lassen. Zu alt. Welch fataler Irrtum!
Auf der Seife
Neben der Fähigkeit, Freistöße präzise im Tor zu versenken, besticht Pirlo vor allem durch seine Unberechenbarkeit. Dabei spielt er nie jenen unmöglichen Pass, der nur in der Theorie ankommt und mit einem Ballverlust gleichzusetzen ist. Sondern den unmöglichen Pass, der tatsächlich möglich ist. Die Gegner sehen dabei meist aus, als würden sie auf der sprichwörtlichen Seife stehen.
Nach dem 2:1 gegen Deutschland im Semifinale gab sich Pirlo wie immer wortkarg. Wobei man nicht einsilbig sein muss, wenn man wenig spricht. Verglichen mit Cassano oder Balotelli könnte Pirlo tatsächlich Architektur studiert haben. Er sagte: "Unser Mittelfeld ist so stark wie das der Spanier. Das haben wir bewiesen." Ja, in der Tat, zum Beispiel beim 1:1 in der Vorrunde, als zum ersten Mal ersichtlich wurde, wie gefährlich Italien bei dieser EURO werden würde. Als sich Marchisio, De Rossi und Montolivo im Mittelfeld die Seele aus den Leibern rannten, um Pirlo die nötigen Meter Platz zu verschaffen, die er für seine Vorlagen braucht. Vergliche man Fußball mit American Football, wäre Pirlo der Quarterback, der freigespielt wird, um Akzente zu setzen.
Spanische Blumen
Auch Cesc Fabregas ist Pirlo-Fan. Dies lässt der spanische Angreifer, der in der Vorrunde das Tor zum 1:1 geschossen hat, aber nur durch die Blume wissen. "Deutschland hat alles versucht, aber Italien hat eine brillante erste Halbzeit gespielt. Wir müssen versuchen, ihre beiden Stürmer und Andrea Pirlo in den Griff zu bekommen."
Nach den Spielen gegen Kroatien, England und Deutschland wurde der 1,77 Meter große Stratege zum "Man of the Match" gewählt. Spätestens seit dem mittels Schupfer verwandelten Elfer gegen England wird Pirlo auch im Ausland als cooler Star geschätzt. Also in jenen Ländern, die nicht Italien heißen. Er verspricht: "Es wird ein grandioses Finale."
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