Gelbe Träume, fragwürdige Trikots: Der ÖFB-Gegner und seine Fans
Am Montag spielt Österreich gegen die Ukraine um den Aufstieg ins EM-Achtelfinale. Ein Duell, in dem es um alles geht. Ein Besuch bei Fußball-Verrückten in Kiew.
20.06.21, 12:00
Im Ecklokal neben dem Kiewer Olympiastadion riecht es nach Schweiß, Alkohol und gebratenem Fleisch. Biergläser klirren, wenn der tätowierte Kellner nach ihnen greift, um den nicht enden wollenden Durst der Gäste zu stillen. An der Bar und an den Tischen sitzen Männer und einige Frauen in gelben und blauen Trikots, essen Zwiebelringe, gebratene Erdäpfel, Wurst und Burger und starren dabei gebannt auf einen der vielen Fernsehbildschirme. Sie raunen, schreien oder schimpfen und liegen sich zweimal freudig in den Armen, als Andrij Jarmolenko und Roman Jaremtschuk treffen. Alioski verkürzt für Nordmazedonien auf 1:2. Ein Elfmeter, zuerst gehalten und dann doch versenkt, im Club-Lokal der Dynamo-Kiew-Fans wird ordentlich geflucht.
An die Pandemie erinnert nichts. Eine Flasche Desinfektionsmittel vielleicht, die einsam und unberührt auf einer Holzkommode steht. Ukrainische Gaststätten, auch die Nachtclubs, sind seit Anfang April geöffnet. An den Eingängen wird weder nach einem negativen Coronatest gefragt, noch darauf bestanden, eine Maske zu tragen.
Für die mehr als hundert Lokalbesucher im Zentrum der Stadt ist aber selbst der frühe Anpfiff kein Grund, um das Spiel zu verpassen. Das spärlich beleuchtete Kellerlokal wurde vor rund acht Monaten von Dynamo-Kiew-Ultras eröffnet. Unüberhörbar, dass Fußball mehr als ein Hobby und alles andere als unpolitisch ist. Die Kellnerinnen tragen T-Shirts mit der Aufschrift: „Ich bin nur für zwei Mannschaften. Für die Ukraine und jeden, der gegen Russland spielt.“
„Pro Pyro“, steht auf einem Poster, daneben hängen Schwarz-Weiß-Fotos bekannter ukrainischer Fußballer und die Vereinsschals befreundeter Klubs wie Dinamo Zagreb. Als Hommage an die kroatischen Klub-Freunde trägt der Besitzer der Kneipe ein Shirt der „Bad Blue Boys“, so nennen sich die Zagreb-Ultras, die genauso wie die hier anwesenden Dynamo-Kiew-Fans oft rechten und nationalistischen Parteien nahestehen.
Gegen Russland
Andrei, Ende 40, bekennender Hooligan, sieht sich in der Kneipe nicht nur die Ukraine-Spiele an. Er kommt auch, wenn Russland spielt. Dann feuert er leidenschaftlich die gegnerische Mannschaft an. So wie viele andere Fußball-Fanatiker hat sich Andrei im Jahr 2014, als die Kämpfe im Donbass begannen, einem Freiwilligen-Batallion angeschlossen, um gegen die von Russland unterstützten Separatisten zu kämpfen. Mitgebracht aus dem Krieg habe er eine Verletzung am Bein und Freunde fürs Leben. „Für uns ist dieser Ort wie ein Zuhause“, sagt ein anderer Gast über die Bar. Vasili ist 18 und studiert Jura in Kiew. Er ist gemeinsam mit seinem Freund da und schüttelt ehrfürchtig die Hände der älteren Gäste. Er sagt: „Wir sind eine Familie.“
Dann, als der Schlusspfiff ertönt, rufen die meisten Barbesucher jene beiden Slogans, die in den vergangenen Wochen für internationale Aufregung gesorgt haben: „Ruhm der Ukraine“, „Ruhm unseren Helden“.
Zwiespältige Slogans
Beide Sätze wurden auch auf der Rückseite der neuen Trikots der ukrainischen Fußballnationalmannschaft eingenäht. Auf der Vorderseite sind die Umrisse der Landesgrenzen einschließlich der durch Russland annektierten Krim zu sehen. Von russischer Seite wurde der ukrainische Fußballverband UAF aufgrund der patriotischen Aufrufe heftig kritisiert, woraufhin die UEFA die Slogans wegen ihrer „eindeutig politischen Natur“ beanstandete.
Zwar hat sich die Ukraine zu einer Verdeckung der Slogans mit einer kleinen Version des Landesumrisses bereit erklärt, doch UAF-Chef Pawelko erklärte die beiden Sätze zum offiziellen Motto.
Obwohl die Slogans auch von den ukrainischen Nationalisten und Nazi-Kollaborateuren im Zweiten Weltkrieg verwendet wurden, werden sie in der heutigen Ukraine unterschiedlich assoziiert, erklärt Anna Osyptschuk, Soziologin und Politologin an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie. „Ich würde sagen, dass die Mehrheit der Bevölkerung die beiden Sätze mit der Maidan-Revolution und dem noch immer andauernden Krieg in Verbindung bringt.“ Die Slogans werden unabhängig von politischen Parteizugehörigkeiten verwendet, unter anderem auch von der ukrainischen Armee. Zwar könne man die Slogans auch im Fußball-Kontext als Kampfaufruf interpretieren, sagt Osyptschuk. „In der Ukraine hat dieses Sportereignis aber vor allem die Funktion, ein sozialer Klebstoff zu sein. Gerade in unserer politisch schwierigen Situation suchen die Menschen nach Zusammengehörigkeit.“
Wie sich diese anfühlen kann, konnten die Besucher beim Auftaktspiel der Ukraine gegen die Niederlande (2:3) vor einer Woche im Kiewer Olympiastadion erleben, wo das Spiel auf einer kinogroßen Leinwand übertragen wurde. Tausende strömten ins Stadion und bejubelten jeden Ballkontakt. Frauen, gewickelt in Ukraine-Fahnen, Männer mit Fußballschals. Masken hingegen sah man kaum. Ob die Zuschauer geimpft, getestet oder genesen sind, interessierte am Eingang niemanden.
Der Showdown
Am Montag, im Spiel gegen Österreich, wird es wieder so sein. Beide Teams werden alles geben, um weiterzukommen, sagt die 24-jährige Anna, die als soziale Aktivistin in Kiew arbeitet. Anna ist Dynamo-Kiew-Fan, aber nicht mehr so fanatisch wie früher. Sonst würde sie sich wie die Ultras darüber ärgern, dass Rivale Schachtar Donezk aus der umkämpften Ostukraine die Erlaubnis erhielt, im Kiewer Stadion zu spielen. Anna: „Fußball ist etwas, das die Ukraine als Nation unterstützt. In diesen schlechten Zeiten ist es schön, etwas zu haben, das das ganze Land vereint, ein bisschen wie beim Eurovision Song Contest: Jeder unterstützt dieselbe Mannschaft – und endlich sind alle einmal einer Meinung.“
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