Es gibt eine Geschichte, die Lilian Thuram gerne erzählt. Sie handelt nicht von seinen zwei Toren im Halbfinale der WM’98, die Frankreich in weiterer Folge gewonnen hat. Sie handelt von Christoph Columbus. Thuram bittet die Zuhörer, die Augen zu schließen und sich vorzustellen, man sei auf dem Schiff, mit dem Columbus Amerika entdeckt hat. "Seht ihr das Festland?", fragt Thuram. "Seht ihr die Menschen dort?", fragt er weiter. "Denkt ihr, sie haben gesagt, endlich entdeckt jemand dieses Land?"
Welt- und Europameister
Der in Guadeloupe (Frankreich) geborene Thuram machte Karriere als Verteidiger bei AS Monaco, AC Parma, Juventus Turin und FC Barcelona. 1998 gewann der Rekord-Nationalspieler (142 Spiele) mit Frankreich die Weltmeisterschaft, 2000 die Europameisterschaft.
Nachwuchs
Seine beiden Söhne Marcus und Khéphren sind ebenfalls Profifußballer. Mit der Lilian-Thuram-Foundation engagiert sich der Franzose gegen Rassismus, setzt sich politisch ein und ist Autor mehrerer Bücher.
Lilian Thuram will den Blickwinkel verändern. Er ist seit Jahren in der antirassistischen Bildungsarbeit tätig. Er müsste das nicht tun, er hat mit Fußball auf Top-Niveau für sein Leben längst ausgesorgt. Als er damals, 1998, mit Frankreich Weltmeister wurde, war das ein wichtiges Momentum für Minderheiten im Land. Thuram will nicht, dass dieses Momentum vorbei ist. Für ihn gibt es "schwarz" und "weiß" gar nicht, das hat er zuletzt in seinem Buch "Das weiße Denken“ festgehalten, das es jetzt auch auf Deutsch zu lesen gibt.
KURIER: Herr Thuram, in Ihrem Buch schreiben Sie, man werde nicht schwarz oder weiß geboren, man werde es erst später. Seit wann sind Sie schwarz?
Lilian Thuram: Ich bin in Guadeloupe geboren, als ich neun war, bin ich nach Paris gezogen. In meiner Klasse wurde ich als "schmutziger Schwarzer" beschimpft. Ich habe das nicht verstanden. Heute weiß ich, dass diese Kinder, die mich so genannt haben, bereits die "weiße Maske" aufhatten, die seit Generationen weitergegeben wird.
Wie meinen Sie das?
Wenn man die Farbe der Haut ansieht, dann ist sie ja nicht schwarz, nicht weiß, wie ein Blatt Papier. Es ist eine Art zu denken, die uns jemand beigebracht hat. Für mich ist wichtig, dass man sich die Frage stellt: Warum sage ich, was ich sage? Warum denke ich, was ich denke? Ich möchte, dass die Jungen verstehen, dass Rassismus nichts Natürliches ist. Diese Hierarchie ist entstanden, weil die Politik es so wollte, um ein ökonomisches System zu rechtfertigen. Seit Jahrhunderten redet man uns ein, Menschen mit weißer Hautfarbe seien überlegen. Wir reproduzieren das ständig. Man muss sich davon befreien, um klar zu sehen.
Sie arbeiten viel mit Jugendlichen. Können die mit Vorurteilen brechen, wenn sie damit aufgewachsen sind?
Wenn mir ein Kind sagt, es sei weiß, frage ich, warum es dieses Wort verwendet. Die Antwort ist: "Aus Gewohnheit". Sie können das durchbrechen, aber dafür müssen sie es zuerst hinterfragen.
Deshalb auch das Beispiel mit Columbus?
Zu sagen, Columbus hätte Amerika entdeckt, bedeutet, dass der Kontinent nur existiert, weil die Europäer dort angekommen sind. Daraus entsteht – auf subtile Weise – eine Hierarchie. Die Idee, die ich vermitteln will, ist: Könnt ihr die Dinge vielleicht auch von einem anderen Standpunkt aus sehen? Ich möchte ihnen dafür die Mittel geben.
Sie haben lange in der Welt des Fußballs gelebt. Gibt es da ganz eigene Anwandlungen des Rassismus?
Der Rassismus im Fußball ist derselbe wie im alltäglichen Leben. Es gibt Vorurteile, die an die Farbe der Haut gebunden sind: Etwa, dass Schwarze körperlich stark sind und daher Fußballer werden können. Man spricht ihnen aber nicht die intellektuelle Kompetenz zu, Trainer zu werden. Das kann man auf andere Bereiche umlegen: Es gibt etwa auch kaum schwarze Dirigenten – oder weibliche.
Liegen im Fußball auch Chancen, um gegen Rassismus zu kämpfen?
Ja. Im Amateurfußball kreiert man Räume für Begegnungen. Eine gemischte Mannschaft hat ein gemeinsames Ziel. Das schafft Verbundenheit. In Nationalteams unterschiedlicher Hautfarben und Religionen kommt noch etwas hinzu: Man schafft für den Zuschauer ein Vorbild eines Kollektivs, das bunt ist. Dadurch lernt er, dass sein Land nicht einfärbig ist.
Auch in Ihrem Team 1998 waren verschiedene Hautfarben, Religionen. Statt Bleu, Blanc, Rouge hieß es Black, Blanc, Beur (Schwarz, Weiss, Maghrebinisch, Anm.). Es schien ein Momentum für ein neues Miteinander zu geben.
Der Slogan war wichtig. Das Nationalteam sieht so aus – Frankreich sieht so aus! Viele hatten neues Selbstvertrauen zu sagen: "Wir gehören hier her!" Es kam die Diskussion auf, warum es in anderen Bereichen diese Diversität nicht gibt. Das war davor einfach hingenommen worden.
Nationale und internationale Verbände geben Geld für Antirassismus-Arbeit aus. Ändert sich dadurch etwas?
Ich glaube schon. Wenn ein Kind beim Fußballschauen Beiträge sieht, die den Rassismus verurteilen, dann prägt sich das ein. Ich denke schon, FIFA und UEFA könnten mehr tun. Aber das, was sie tun, bringt schon was. Aber wichtiger wäre es, dass die einzelnen Spieler, Spielerinnen, Trainer sich aktiv dagegen aussprechen. Vor allem weiße. Wir müssen davon abkommen, dass wir das den schwarzen Spielern überlassen. Denn Rassismus ist nicht nur ihr Problem!
Wie meinen Sie das?
Ich hatte einen Mitspieler, der nach einem rassistischen Vorfall zu mir gesagt hat: "Lilian, mach dir nichts draus, das ist nicht schlimm." Aber damit hat er es nur schlimmer gemacht. Oft wollen die Nicht-Betroffenen nichts von Rassismus hören. Es nervt sie nur. Wer sich nicht dagegen ausspricht, ist aber nicht neutral, sondern macht es schlimmer, weil er den Rassismus akzeptiert. In dieser Sache gibt es keine Neutralität.
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