„Fuck VAR!“ Englands Fans haben ein neues Feindbild gefunden. Auch am Neujahrstag waren die Schmähgesänge gegen den VAR („Video Assistant Referee“) nicht zu überhören, die seit Wochen in allen Premier-League-Stadien angestimmt werden. Die Fans fühlen sich um ihre Emotionen betrogen, weil immer wieder Tore wegen extrem umstrittener Abseitsentscheidungen im Nachhinein aberkannt werden.
Auch das neue Jahr startete mit so einer VAR-Entscheidung, die zu einem Sturm der Entrüstung führte. Aston-Villa-Kapitän Jack Grealish hatte in Burnley in der 11. Minute das 1:0 geköpfelt. Sein Jubel war aber umsonst, denn der Treffer zählte nach einer Überprüfung, die fast drei Minuten dauerte, nicht. Sein Mitspieler Wesley war gut zehn Sekunden davor mit seiner Ferse Millimeter im Abseits gestanden.
„Was zur Hölle soll das?“, fragte Englands ehemaliger Stürmerstar Gary Lineker, der mittlerweile als Präsentator für den englischen TV-Sender BBC arbeitet, schon wenige Sekunden nach der Entscheidung. Für seinen Tweet sollte einer der größten VAR-Kritiker 30.000 Likes bekommen.
Drei Tore aberkannt
Noch größer war die Aufregung am vergangenen Samstag. Da waren gleich drei Tore in drei Spielen wegen extrem knapper Abseitsentscheidungen im Nachhinein annulliert worden.
„Der VAR hat die Premier League zum Gespött gemacht“, titelte die Boulevardzeitung The Sun. Henry Winter, Fußball-Chefreporter der Zeitung Times, reagierte mit einem emotionalen Tweet und sprach Hunderttausenden Fans aus der Seele: „Das hat nichts mehr mit Fußball zu tun. Der VAR nimmt einem die ganze Freude.“
Auch die Startrainer der Premier League kritisieren den VAR. Liverpool-Coach Jürgen Klopp erklärte erst am Sonntag: „Ich feiere keine Tore mehr, weil wir warten müssen, bis jemand sagt, dass es ein Tor ist.“ Auch Manchester-City-Trainer Pep Guardiola ist frustriert: „Es ist ein großes Durcheinander. Und das mittlerweile jede Woche.“
Tottenham-Trainer José Mourinho meldete sich ebenfalls zu Wort: „Der VAR sollte seine Namen ändern, weil Video-Assistent nicht der Wahrheit entspricht. Er sollte VR heißen, also Video-Schiedsrichter. Denn er ist eigentlich der Schiedsrichter. Das ist ist komisch, denn man sieht die Schiedsrichter auf dem Feld, aber sie entscheiden nicht.“
Der Startrainer aus Portugal sprach ein englisches Spezifikum an: Anders als etwa in der Champions League oder bei der WM überprüft in der Premier League der Schiedsrichter die Entscheidungen nicht noch einmal auf einem Bildschirm am Spielfeldrand, sondern setzt die Entscheidung des VAR einfach um.
Einerseits soll so alles schneller gehen als im anderen System, im dem die noch längere Dauer bis zur endgültigen Bewertung einer Situation kritisiert wird. Andererseits wird so die Autorität des Schiedsrichters untergraben.
Lange Testphase
Die Einsatz von technischen Hilfsmitteln war bis 2012 noch verboten. Erst danach lockerte der Weltverband FIFA die Regelungen. Zunächst wurde nur die Torlinientechnologie erlaubt. Der Videobeweis darf erst nach einer vierjährigen Testphase seit 2016 eingesetzt werden, mittlerweile wurde der VAR aber sogar in das Regelwerk integriert.
Das IFAB, das ist jene Kommission, die die Fußballregeln beschließt, legte genau fest, welche Situationen der VAR überprüfen darf: Tore, Elfmeterentscheidungen, Rote Karten und die Verwechslung von Spielern. Einschreiten darf dieser aber nur bei einem „klaren und offensichtlichen“ Fehler oder wenn der Schiedsrichter einen „schwerwiegenden Vorfall“ übersieht.
In der Premier League greift der VAR besonders oft ein – zu oft, wie viele Kritiker meinen, nämlich auch dann, wenn es bei einer Abseitsentscheidung nur um wenige Millimeter geht, ob die Position eines Spielers nun strafbar ist oder nicht.
Dies wird mit einer sogenannten kalibrierten Linie festgestellt, die mittels der TV-Standbilder gezogen wird. Das System ist umstritten, weil die gebräuchlichen Kameras nur 50 Bilder pro Sekunde produzieren, die Spieler sich aber in den jeweils 0,02 Sekunden zwischen den Frames natürlich bewegen.
Auch die Regelhüter sind nicht glücklich, wie der VAR in der Premier League eingesetzt wird: „Wenn Sie mehrere Minuten damit verbringen, herauszufinden, ob es sich um eine Abseitsposition handelt oder nicht, ist dies nicht klar und offensichtlich, und die ursprüngliche Entscheidung sollte bestehen bleiben. Die Leute versuchen, zu forensisch zu sein“, erklärte IFAB-Generalsekretär Lukas Brud der BBC.
Neue Richtlinien
Bei der IFAB-Jahreshauptversammlung im Februar sollen deshalb neue Richtlinien beschlossen werden. Auch Jürgen Klopp machte sich schon seine Gedanken, wie der VAR bei Abseitsentscheidungen eingesetzt werden soll: „Man könnte eine dickere Abseitslinie ziehen. Dann gibt es mehr Toleranz. Das würde vieles einfacher machen, und der Prozess würde nicht so lange dauern.“
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