Nationalismus im Fußball: „Eine Nation stabilisiert“

Im Fokus: Der Schweizer Shaqiri jubelte mit Albaniens Doppel-Adler.
Wissenschaftler und Historiker über Chancen und Gefahren.

Eine Nation spielt eben so, wie sie lebt.

von César Luis Menotti, Argentiniens Weltmeistertrainer 1978

Ist Nationalismus im Sport schlecht? Nein, sagt die Geschichtswissenschaft. „Eine Nation ist ja per se nichts Schlechtes. Sie leistet ungemein viel für eine Gesellschaft und stabilisiert“, erklärt Rudolf Müllner, Historiker und Sportwissenschaftler an der Universität Wien. Doch er schickt nach: „Die entscheidende Frage ist: Wo und wann wird Nationalismus pathologisch?“

Die laufende Fußball-WM in Russland lieferte dafür einige Beispiele. Xherdan Shaqiri und Granit Xhaka, zwei Schweizer Teamspieler mit kosovarischen Wurzeln, sorgten im Spiel gegen Serbien für Diskussionen, als sie mit der politisch aufgeladenen Doppeladler-Geste gejubelt hatten; der Schwede Jimmy Durmaz, Sohn türkischer Einwanderer, erhielt Hassmails und Morddrohungen, nachdem er ein spielentscheidendes Foul begangen hatte. Müllner fragt provokant: „Hätte es diese Nachrichten auch gegeben, wenn der Spieler keinen Migrationshintergrund gehabt hätte?“

Die größten Wellen schlug jedoch das Foto der deutschen Teamspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan. Die beiden Profis mussten daraufhin ihr Bekenntnis zu Deutschland sogar bei einem Treffen mit dem deutschen Bundespräsidenten unterstreichen. Nicht wenige machen das historische Vorrunden-Aus der deutschen Nationalmannschaft auch an dieser Debatte fest. „Es braucht aktuell im Sport öffentliche Bekenntnisse zu einer einzigen Nation“, betont Sporthistoriker Müllner. Jede Form der Differenzierung bedeute Verrat.

Nationalismus im Fußball: „Eine Nation stabilisiert“

Der Schwede Durmaz wurde zutiefst beleidigt und bedroht.

Ungenützte Chance

Diese Bekenntnisse werden in einer globalisierten Welt aber immer schwieriger. Mesut Özil etwa wuchs in Gelsenkirchen auf, er wurde in Deutschland sozialisiert, spricht mit seiner Familie türkisch, er spielte als Profi in Spanien und lebt seit Jahren in England. Der Historiker sieht im Negieren dieser „multiplen Biografien“ eine vertane Chance für das bessere Verständnis kultureller Differenzen.

Im Idealfall hat „der Sport die Fähigkeit, Nationalismus in einer Form vorzubringen, die nicht gefährlich ist“. So sieht es Boria Majumdar. Der Historiker beschäftigt sich in dem Journal „Soccer & Society“ mit den Auswirkungen von Fußball auf die Gesellschaft. In der Süddeutschen Zeitung warnte der Forscher davor, das Verhalten ein paar weniger Spieler oder Fans auf eine gesamte Nation zu übertragen. „Wir neigen dazu, Folgerungen aus dem Sport abzuleiten. Toni Kroos, der in der 95. Minute das Siegestor gegen Schweden schießt, sagt dann etwas über die Niemals-aufgeben-Haltung der Deutschen aus.“

Die Menschen neigen zu dieser Verallgemeinerung, weil die Symbolik so stark ist: „In den sozialen Medien konsumieren wir Neuigkeiten im Sekundentakt und bilden uns auch innerhalb von Sekunden eine Meinung. Das ist zwar oberflächlich, hat aber großen Einfluss,“ sagt Majumdar.

Starke Bindung

Und die Einflüsse rauschen nur so durch die Kanäle. Noch zwei Tage nach dem Vorrundenspiel zwischen Belgien und England gab es auf Twitter binnen einer Stunde fast 2000 Nachrichten zu der Partie. Auf nationaler Ebene kann dieser enorme Informationsfluss das Wir-Gefühl verstärken. „Patriotismus ist der positive Nationalismus“, sagt Rudolf Müllner. Doch die emotional starke Bindung an das „Wir“ habe oft auch die Ablehnung des jeweils „Anderen“ zur Folge. Nicht wenige fanden es befremdlich, als die Deutschen im Zuge der Heim-WM 2006 Autos und Häuser mit Deutschland-Fahnen schmückten. Dennoch stand die DFB-Elf seither sinnbildlich für ein neues, weltoffenes und erfolgreiches Deutschland. Erst bei dieser WM-Endrunde bekam das schwarz-rot-goldene Image Kratzer. Dokumentiert letztlich auch im sportlichen Niedergang des Ex-Weltmeisters.

„Sport kann versöhnen, verbinden. Aber er hat auch das Potenzial, das komplette Gegenteil zu erzeugen“, sagt Müllner, der eine rationale Auseinandersetzung vermisst – vor allem in Hinblick auf die aufkeimenden rechtsnationalen Tendenzen in vielen europäischen Ländern. Die schärfere Grenzziehung werde wieder wichtiger. „Natürlich spiegeln sich diese Tendenzen auch im Sport wider.“ Der sportliche Wettstreit könne auch anders gedacht werden – wie etwa im Radsport, wo die Herkunft der Rennställe eine eher untergeordnete Rolle spielt. Für eine Gesellschaft gebe es aktuell keine sinnvolle Alternative zur Nation. Müllner: „Alles andere sind charmante Utopien.“

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