Island hofft auf eine weitere EURO-Eruption

Sonntag, 21.00 Uhr: Die Wikinger fordern EM-Gastgeber Frankreich. Einem Vulkan gleich – Isländer haben damit viel Erfahrung – entlädt sich die Fußball-Euphorie. Mit vielen Nebenwirkungen.

Ekstase, Euphorie, eine andere Dimension des Glücks ... die Worte, um die derzeitige Stimmung in Island zu beschreiben, gibt es nicht – also lasst uns einfach rufen: ÁFRAM ÍSLAAAAND (Vorwärts, Island)!

"Der blaue Ozean", oder die isländischen Fußballfans in ihren blauen Dressen, sind dieser Tage nicht nur in Frankreich, sondern auch überall in Island. Die, die dieser Tage nicht nach Frankreich emigriert sind, unterstützen unser Team, als ob wir selbst im Stadion wären. Alt und Jung johlend vor dem Fernseher oder auf öffentlichen Plätzen; Großmütter, Kinder, Teenager, einfach alle! Ich habe an sich den Ruf, ein ruhiger, gesetzter Mensch zu sein, aber meine Kinder (plötzlich glühende Fußballfans) sehen mich jedes Mal angsterfüllt an, wenn das isländische Team spielt, als würden sie denken: "Wer ist diese Verrückte, und wieso brüllt sie so?"

Aber es bin nicht nur ich, die vorübergehend anscheinend dem Wahnsinn verfallen ist. Vor und während jedem Spiel der Nationalmannschaft herrscht Ausnahmezustand. Die meisten Firmen schließen, damit die Angestellten die Spiele sehen können. Geschäfte haben geschlossen, und so findet man auf den Straßen dann meist nur verwunderte Touristen.

Und dann sind da all die Isländer, die alles versucht haben, um für das Sonntag-Spiel noch nach Frankreich zu kommen – was mit einigen Schwierigkeiten und erheblichem finanziellen Aufwand verbunden ist, wenn man in der Mitte des Atlantiks lebt. Dieser Umstand hat zu beträchtlichem Chaos geführt. Niemand hat damit gerechnet, dass wir so weit kommen – und entsprechend hat auch niemand Karten gekauft oder eine Reise geplant. Die Folge: Verzweifelte Versuche, Karten für Sonntag zu ergattern; und die Fluglinien hatten alle Hände voll zu tun, um zusätzliche Flüge zu organisieren – was eine Herausforderung war angesichts der Rekordzahl an Touristen, die heuer Island besuchen.

Inflation

Viele Fans sind zwischen Island und Frankreich gependelt. Leider aber haben einige dabei den Realitätssinn für ihre Finanzen verloren. Eine Kreditkartenfirma hat bereits bekannt gegeben, dass die Isländer am 27. Juni, dem Tag, an dem wir gegen England gewonnen (!!!) haben, ihre Kreditkarten elf Mal öfter im Ausland benutzt haben als am selben Tag des Vorjahres.

Und es gibt Spekulationen, dass die Inflation durch die EM kräftig zulegen wird, nachdem beinahe jede Firma, jede Tankstelle, jeder Laden, jedes Restaurant irgendeine Art von EURO-Rabatt bietet. Unser Verhalten wird wohl ökonomische Konsequenzen haben, es braucht nicht viel, um eine kleine Volkswirtschaft zu beeinflussen. In gewissem Sinn drehen wir durch, aber wir befinden uns doch in besonderen Zeiten, in denen alles möglich scheint – richtig?

Es ist einfach schön, einmal positiv in internationalem Licht zu stehen. Es gab zu viele Peinlichkeiten in den vergangenen Jahren. Unser Fußballteam hat uns den Eyjafjalla-Ausbruch (der 2010 den europäischen Flugverkehr lahmgelegt hat), unseren Weltrekord-Bankrott im Zuge der Weltwirtschaftskrise und unseren "Panama-Papers-Premier" fast vergessen lassen. Das Leben ist derzeit richtig schön mit der Mitternachtssonne, den Vögeln, die mitten in der Nacht singen, dem zumindest zeitweise blauen Himmel und letztlich uns selbst, die wir etwas plötzlich besonders gut zu können scheinen – was recht selten passiert.

Man kann mit relativer Gewissheit sagen, dass wir derzeit glücklich sind, und dass da Hoffnung auf einen Neustart oder zumindest Veränderungen in der Luft liegt.

Neue Kraft

Vergangene Woche gab es Präsidentenwahlen – trotz Fußballmanie haben wir es geschafft, einen neuen Präsidenten zu wählen. Der Neue ist ein junger Mann, ein Uni-Professor, Vater von fünf Kindern. Er bringt seine Kinder jeden Morgen mit dem Fahrrad in den Kindergarten und hat bekundet, daran nichts ändern zu wollen. Die allermeisten finden das erfrischend nach 20 Jahren mit demselben Präsidenten. Und, als wäre das noch nicht genug, hat man uns auch vorgezogene Parlamentswahlen im Herbst versprochen – wegen des Skandals um die Panama Papers und des damit verbunden Rücktritts des Premiers. Die Partei, die in den Umfragen seit Anfang 2015 führt, ist die Piratenpartei – wir freuen uns also auf Wahlen und möglicherweise große politische Veränderungen.

Aber all das ist derzeit völlig egal, weil wir ein französisches Wunder erleben, wie wir es in dieser Form als Nation noch nie erlebt haben. Der Sommer 2016 ist bereits in Islands Geschichte eingegangen . Ich werde mir heute vermutlich wieder die Seele bis zur Heiserkeit aus dem Leib schreien, wenn Island auf Frankreich trifft – vermutlich daheim, um meinen Kindern die öffentliche Peinlichkeit einer verrückten Mutter zu ersparen. Das Ergebnis ist völlig nebensächlich: Wenn "unsere Jungs" gewinnen, werden sie unsere Helden sein; aber auch wenn sie verlieren, werden sie unsere Helden sein. Áfram Ísland!

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