Essstörungen im Spitzensport: Trio sagt dem Tabuthema den Kampf an
In einigen Sportarten sind vier von zehn Athleten von Essstörungen betroffen, die Folgeschäden sind enorm. Eine Sportwissenschafterin, Ernährungsexpertin und Psychologin bieten Hilfe und Unterstützung.
„Mit 15 Jahren fing ich an, mich zu übergeben. Es musste raus, ich durfte einfach nicht zunehmen.“ Die heute 34-jährige ehemalige Weltklasse-Turnerin Kim Bui sprach Anfang März in der ARD-Doku „Hungern für Gold“ über ihre Bulimie-Erkrankung.
Ästhetische Sportarten wie Kunstturnen, Ballett oder Eiskunstlauf sowie Ausdauersportarten oder Disziplinen mit Gewichtsklassen sind besonders anfällig für die Entwicklung eines falschen Essverhaltens.
Laut dem Bericht sind 42 Prozent der Athleten aus diesen Disziplinen von Essstörungen betroffen – sowohl Männer als auch Frauen. Der Fachbegriff dafür: „Anorexia athletica“. Im Vergleich zur klassischen Bulimie liegt der Unterschied darin, dass Athleten nicht vorrangig wegen des Aussehens hungern, sondern um einen Leistungsvorteil zu erlangen.
Die Folgeschäden sind enorm
Das Problem ist seit mehr als 40 Jahren bekannt, darüber gesprochen wird kaum. Meist sind sich die Athleten ihres fatalen Essverhaltens nicht bewusst. Zu den Folgeschäden des langfristigen Hungerns gehören: geringere Knochendichte und damit höheres Verletzungsrisiko, sowie erhöhte Wahrscheinlichkeit für Osteoporose, organische Schäden, Depressionen. Bei Frauen kann die monatliche Blutung aufgrund des gestörten Hormonhaushalts ausbleiben.
Kim Bui, die ehemalige Biathletin Miriam Neureuther und andere haben das Tabuthema aufgezeigt, um Menschen dafür zu sensibilisieren. Im Leistungssport ist es eine tägliche Gratwanderung zwischen Grenzen ausloten und Schäden vermeiden. Vor allem dann, wenn jedes Gramm Körpergewicht mitentscheidend ist für Top-Ergebnisse oder eine Olympiamedaille.
„Ich war in einer Trainingsgruppe, in der der Trainer zu einer Kollegin gesagt hat, dass sie abnehmen muss. Ich hatte das Glück, dass das zu mir nie jemand gesagt hat“, erzählt Triathletin Julia Hauser.
Die 29-jährige Wienerin stellt sich „nicht oft auf die Waage“ und ist ein Paradebeispiel dafür, wie Athleten auf höchstem Niveau mit ihrem Gewicht umgehen sollten. Laut Sportwissenschaftlerin Marietta Sengeis von Leistungssport Austria hat Hauser das ganze Jahr über das gleiche Gewicht. Die beiden arbeiten seit fast zehn Jahren zusammen.
Anfangs gab Sengeis der Oberstufen-Schülerin bei Untersuchungen kleine Inputs, die sich positiv auf ihre Leistung auswirkten. „Wir sind in Kontakt geblieben. Ihr Feedback hat mir sehr geholfen. Früher habe ich nicht viel auf Ernährung oder Regeneration geachtet“, sagt Hauser. Sie zählt zu den Top-30-Triathletinnen der Welt, nahm an den Olympischen Spielen 2016 sowie 2020 teil und peilt in Paris 2024 eine Medaille an.
Voraussetzung dafür ist, dass die 1,64 Meter große Athletin ihren 49 Kilogramm leichten Körper optimal für die 25 bis 30 Stunden Leistungssport pro Woche versorgt. „Wenn ich mich nicht ausreichend ernähre, habe ich zwei Tage später das Gefühl, dass auf dem Rad nichts weitergeht. Ohne Essen geht es nicht.“
Der Körper holt sich sonst die Nährstoffe über die Muskulatur, „so wird die Körperzusammensetzung aber nicht in die richtige Richtung verändert. Langfristig sieht man das“, erklärt die Ernährungswissenschafterin Isabella Grabner-Wollek. Trainingsanforderung und Energiezufuhr müssen im Einklang sein.
„Julia ist professionell. Sie isst das Richtige zum richtigen Zeitpunkt und geht nicht hungrig durch die Gegend“, erklärt Grabner-Wollek, die ihr für Wettkämpfe einen Ernährungsplan erstellt. Hauser gibt das „Sicherheit“, vor allem, weil sie rund viermal im Jahr auf Trainingslager und von Mai bis September für Wettkämpfe im Ausland ist.
Athleten wollen in dieser Welt, die knallhart ist und in der mit Leistung bezahlt wird, unterstützt werden“
von Friederike Michlmayr
Sportpsychologin
Am Zentrum für Leistungssport Austria werden mehr als 1.000 Sportler aus rund 40 Verbänden pro Jahr von Fachexperten betreut. Im Team ist auch die Sportpsychologin Friederike Michlmayr. Gemeinsam bilden sie ein ganzheitlich ausgelegtes, beispielloses Team in Österreich.
„Früher war der Trainer für alles allein zuständig. Heute holt man sich Experten. Das ist es, was den Unterschied ausmacht. Und, warum wir drei uns zusammen getan haben“, sagt Michlmayr.
Athleten wollen das Maximum herausholen und „in dieser Welt, die knallhart ist und in der mit Leistung bezahlt wird, unterstützt werden“. Perfektionismus korreliert laut Michlmayr stark mit psychischen Erkrankungen. Deshalb sollen Athleten ständiges Kalorienzählen vermeiden.
Wenn die drei Experten von Trainern hören, dass jemand Schwierigkeiten beim Abnehmen hat, bitten sie den Sportler vorbeizukommen. Vorab wird ein Fragebogen geschickt, mit dem die Ernährung mehrere Tage lang dokumentiert werden soll. Dann beginnt die richtige Arbeit.
Während Grabner-Wollek die Ernährungsgewohnheiten studiert, vermisst Sengeis den Athleten – mit neusten Messmethoden. An acht Stellen des Körpers wird mit Ultraschall das subkutane Fett exakt bestimmt. Diese Methode ist zuverlässiger als Kalipermessungen oder die reine Information des Body-Mass-Index. Alter, Training oder Mahlzeiten vor der Messung haben keinen Einfluss. Die Daten erhält auch Grabner-Wollek, danach wird individuell betreut.
Wie kann die Psychologie helfen?
„Wenn wir sehen, dass beispielsweise ein Kohlenhydrat-Getränk im Training wichtig wäre, der Athlet es aus Angst vor den Kalorien aber nicht probieren will, dann wissen wir, dass hier psychologisch gearbeitet werden muss“, sagt Grabner-Wollek. „Psychologie sollte immer da und greifbar, aber nicht die Endstation sein“, fügt Michlmayr hinzu.
Damit es gar nicht so weit kommt, setzen die drei auf Prävention. Sportler, Eltern und Trainer werden geschult, Vorträge in Verbänden gehalten, Informationen mit Experten ausgetauscht. Die Wissenschaft entwickelt sich weiter, und mit ihr die Athleten.
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