Zwischen Testosteron und Toleranz: So bunt ist die Darts-WM im Ally Pally
Es wurde perfekt anvisiert. Exakt drei Minuten – oder: 180 Sekunden – nach Spielbeginn knallt das erste „OOonneehundredandeiiighty“ durch die Veranstaltungshalle. Die bunten Scheinwerferkegel flitzen durch den Publikumsbereich und über die Köpfe der Fans hinweg, die vor Freude aufspringen und dabei ein Drittel ihres Bierpitchers verschütten.
„Das macht Weihnachten aus!“, ruft James Tugy, als er Richtung Versorgungshalle pilgert, um Nachschub zu holen. Abgesehen von den festlich geschmückten Christbäumen, die er in den Seitengängen passiert, ist um ihn herum allerdings wenig Besinnlichkeit zu entdecken. Aber nach 15 Auflagen hat sich dieses Sportereignis dennoch als Fixpunkt in der Adventzeit etabliert: Von Mitte Dezember und noch bis Anfang Jänner wird im eindrucksvollen Alexandra Palace in Nordlondon wieder die Darts World Championship abgehalten.
Farben, Fransen, Fähnchen
Lachend, wild gestikulierend und häufig mit einer Bierdose in der Hand hat sich dafür kurz vor 12 Uhr ein Strom aus bunten Farben, Fransen und Fähnchen die Stiegen hinauf zum Haupteingang geschoben. Denn auch wenn es sich um eine Sportveranstaltung handelt, stehen die Darts nicht alleine im Fokus: Es geht um die Atmosphäre. („Es ist sooo viel besser, als es im Fernsehen aussieht“, erklärt Erstbesucher David Biederweg.) Es geht um Alkohol. (Insgesamt werden in den drei Wochen 500.000 Liter Bier ausgeschenkt). Und es geht – natürlich – um die Kostüme.
„Oh, hey!“, ruft Justin Bell, der mit seinen Freunden auf einem der Tische rechts hinten Platz genommen hat. „Noch ein Strohmann!“ Er springt auf, stößt das Bierglas seines Kollegen im Löwenkostüm um, und fällt seiner Doppelgängerin kurz in die Arme. Während Strohmann Sarah mit ihrem Löwen, Blechmann und männlicher Dorothy zu den eigenen Plätzen zieht, meint Justin: „Und wir dachten, dass wir mit Wicked diesmal einmalig sind.“
Es scheint einem kuriosen Gesetz zu folgen: Neue Kostüme tauchen im Ally Pally selten alleine auf.
Dieses Jahr schieben sich auffallend viele Ali Gs und Super Marios, Nonnen und Minions durch die Hallen. Justin Bell zuckt mit den Schultern. Jetzt muss er wieder aufpassen; das nächste Spiel steht bevor.
Erste Transgender-Frau am Oche
Mit Noa-Lynn van Leuven wird beim bevorstehenden Match erstmals eine Transgender-Athletin teilnehmen. Wie würde sie der Ally Pally empfangen?
Vorab gab es große Aufregung, weil sich die Spielerin über die Frauenturniere qualifiziert hat – ein Vorgehen, das die Regeln des Veranstalters PDC so erlauben und das auch von ihren Kollegen verteidigt wurde. Und doch gab es Drohungen und die Forderung, dass sie von Frauenturnieren ausgeschlossen werden sollte.
Nun liegt in der riesigen Halle mit Alkohol und Testosteron auch eine gewisse abwartende Nervosität in der Luft.
Doch vereinzelte Buhrufe gehen im Applaus unter, als Noa-Lynn mit wallendem, rotem Haar und Lippenstift die Bühne betritt. Und als sie das erste Set dann auch noch für sich entscheiden kann, wird der Jubel richtig laut.
„Ich habe gehofft, dass die Leute mit mir sein würden“, meint Noa-Lynn van Leuven bei der Pressekonferenz nach dem Spiel. „Und ich denke, sie waren mit mir. Sie wollen einfach gute Darts sehen.“
Die Darts-Lust der Frauen
Die Britin Catherine Handley, die mit ihren Tannenbaumbrillen vor einer Gruppe Ninja Turtles sitzt, ist erleichtert: „Ich hatte Sorge, die Stimmung würde anders sein. Aber es war super.“
Vielleicht stehen die Zeichen doch auf Veränderung. Auch wenn der Männeranteil im Publikum noch deutlich überwiegt, steigt die Zahl der Besucherinnen und weiblichen Darts-Fans stetig.
„Später wird ja noch Fallon Sharrock spielen“, sagt Catherine Handley. Die 30-Jährige Fallon schrieb 2019 Geschichte, als sie mit ihren 3-2 gegen Ted Evetts als erste Frau ein Spiel bei einer Weltmeisterschaft gewann. „Sie hat uns den Weg geebnet.“
Catherine Handley nimmt einen Schluck Bier. Sie führt ein Pub in London und spielt selbst Darts. Vielleicht, das wäre ihr Traum, kann sie selbst einmal auf dem Podium stehen.
Die Chancen dafür steigen im kommendem Jahr. Die Veranstalter planen, die Zahl der Spieler von 96 auf 128 zu erhöhen. Damit wären vier weitere Spieltage möglich – eine Reaktion auf die wachsende Nachfrage.
„Die 90.000 Tickets, die wir für das gesamte Turnier haben, waren heuer in 15 Minuten ausverkauft“, sagt Event-Sprecher Dave Allen. Tatsächlich hätte man 300.000 Karten verkaufen können – so viele wie für das Glastonbury Festival.
Letztes Mal Ally Pally?
Möglicherweise steht nach den 31 Jahren in der Weltmeisterschaftsgeschichte ein dritter Ortswechsel an. Offiziell wird das zwar dementiert, aber hinter vorgehaltener Hand kursieren Gerüchte über die Olympia-Halle oder das ExCel Messegelände als neue Austragungsorte. Immerhin fanden die Meisterschaften nicht immer im Alexandra Palace statt, sondern zunächst in der Circus Tavern in Essex.
Doch das bunte Spektakel mit dem Kostümreigen kam im Volkspalast auf dem Muswell Hill zum Höhepunkt. Vom Taubenrennen bis zum Suffragetten-Meeting, vom Pferderennen bis zur ersten gleichgeschlechtlichen Ehe des Landes wurde hier schon immer Außergewöhnliches ausgetragen.
Und um ins Schwarze zu treffen – sei es beim Spiel oder bei der Veranstaltung – muss die Energie stimmen.
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