Cricket: Nur der Fußball ist populärer
Der indische Werfer schleudert den ersten Ball in Richtung des australischen Schlagmannes, und Tom bestellt sein erstes Bier. Es ist früher Nachmittag am vergangenen Donnerstag in Sydney. Als die Halbfinalpartie der Cricket-WM zwischen Gastgeber und Rekordweltmeister Australien und Titelverteidiger Indien etwa Halbzeit erreicht und die Teams ihre Rollen (Schlagmänner/ Werfer) tauschen, bringt Tom sein fünftes leeres Bierglas zurück zur Bar.
Tom ist nicht alkoholkrank. Dreieinhalb Stunden sind seit dem ersten Wurf vergangen, es dämmert bereits in prächtigen Farben über der größten Stadt des Kontinents, doch außer dem Autor dieser Zeilen riskiert kein Bargast auch nur einen Seitenblick auf dieses Naturschauspiel. Spielt sich doch das Drama auf den beiden riesigen Flachbildschirmen ab.
Ein Ende ist zu diesem Zeitpunkt noch ewig nicht in Sicht in dem Halbfinale, das fast acht Stunden dauern soll und in dem Australien den Neuseeländern in ein WM-Finale der beiden Gastgeber gefolgt ist - und dieses am Sonntag auch gewann. Es war der fünfte WM-Titel für die Australier.
Eine Milliarde
All das wirft Fragen auf: Was macht die Faszination dieses Spiels aus, das die Engländer entwickelt und ihre einstigen Kolonien perfektioniert haben? Was sorgt für den Reiz dieses Sports, der eine Handvoll Nationen verrückt spielen und den Rest der Welt völlig kalt lässt?
Wir fragen einen Inder. Sein Name ist Vijay Mallya, er ist Multimillionär und leistet sich daher das Formel-1-Team Force India sowie eine Cricket-Mannschaft. Der KURIER hat ihn am Rande des Grand-Prix-Wochenendes in Melbourne getroffen. Mallya, dessen Chauffeur stets im klimatisierten Wagen zu warten hat, spricht ungern über sich, dafür liebend gern über Cricket: "In Indien gibt es zwei Volkssportarten: Fußball und Cricket – beide haben großes Potenzial. Bei Cricket kommen Tradition und Erfolge noch dazu."
Zum Reiz des Sports sagt er: "Es ist der ultimative Test der Ausdauer." Und damit meint er ausdrücklich nicht die WM-Spiele. Kein Scherz. Die ursprüngliche Form des Spiels nennt sich Test-Cricket, ein Duell erstreckt sich dabei über fünf Tage.
Das ist für eine WM, deren Ausrichter, Fans und Fernsehsender natürlich ein untaugliches Format. Wir sind gar geneigt zu behaupten, ein unzumutbares. So ganz verstanden haben wir das aber nun noch immer nicht. Das mit den Regeln und der Taktik haben wir ohnehin längst aufgegeben, aber die Faszination fasziniert irgendwie.
140 km/h
Nach dem Inder fragen wir einen Australier: Tom. Und zwar vor Bier Nummer drei. "Schau zehn Minuten zu! Du brauchst keine Regeln kennen und wirst dennoch begeistert sein."
Er soll recht haben. Variantenreich werfen die Inder die Bälle: einmal wuchtig mit 140 km/h, dann wieder virtuos mit Effet. Doch auf alles haben Australiens bullige Schläger die passenden Antworten. Am Ende stehen 328 Runs (Punkte) – ein neuer Rekord. Tom jubelt, klatscht und bestellt ein Bier.
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass die Bar übersetzt "der Verrückte" heißt.
Im 15. Jahrhundert wurde Cricket in England erstmals erwähnt. In Österreich wird der Sport, den englische Arbeiter nach Wien brachten, seit 1892 betrieben. In England gibt es vier Millionen Aktive, in Österreich 250 in zehn Klubs.
Ziel des Spiels ist es, Punkte zu sammeln. Das ist die Aufgabe des Batsman, des Schlagmanns. Der steht vor einem Wicket, drei in der Erde verankerten Holzstäben, auf denen zwei kleine Querhölzer liegen. Zwei Batsmen (ein Striker, ein Non-striker) stehen jeweils vor einem Wicket und dürfen abwechselnd je sechs Würfe lang schlagen. Die Gegner: Neun Feldspieler sowie je ein Wicketkeeper und ein Bowler (Werfer). Die Werfer versuchen ihrerseits den Batsman so schnell als möglich aus dem Spiel zu werfen. Befördert der Batsman mit dem breiten Schläger aus Weidenholz die mit Kork gefüllte Lederkugel außerhalb des ca. 110 Meter großen ovalen Spielfelds, ohne dass sie den Boden berührt, erhält sein Team sechs Punkte. Berührt der Ball vor dem Verlassen des Spielfelds den Boden, werden vier Punkte vergeben.
So lange der Ball nicht vom Gegner gefangen wird, dürfen die Batsmen zwischen den Toren (Distanz ca. 20 m) hin- und herlaufen und kassieren pro Strecke einen Punkt. Andrew Simpson-Parker, Österreichs bester Batsman, schafft um die 100 Punkte pro Spiel.
Die Fängerpartei versucht, den Striker so wenige Punkte wie möglich machen zu lassen und ihn aus dem Spiel zu werfen. Trifft der Werfer das Wicket, ist der Batsman out. Ebenso, wenn die Fänger den Ball zum Wicketkeeper befördern, während der Batsman noch zwischen den Wickets unterwegs ist. Der Batsman ist auch aus, wenn er schlägt und der Ball gefangen wird, bevor er den Boden berührt.
Wenn alle 10 Batsmen out sind, erhält die Fängerpartei das Schlagrecht und kann Punkte sammeln. Derartige Spiele dauern drei bis fünf Tage.
Um die Spieldauer zu verkürzen, wird oft die Wurfzahl beschränkt. Bei der ECC-Trophy bekämpften sich die Teams je 35 Overs lang. Nach einem Over (6 Würfe) wechselt der Werfer. Das Finale wurde über 50 Overs ausgetragen.
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