Gefallener Held: Wie der einstige Tour-Sieger Jan Ullrich dem Tod entrann

Jan Ullrich ist ein Mann der Extreme, ein Grenzgänger, für ihn gibt es nur Schwarz oder Weiß, ganz oder gar nicht. Vor 25 Jahren gewinnt der damalige Held einer gesamten Nation die Tour de France. Heute ist er froh, überhaupt noch am Leben zu sein. "Ich war auf dem Weg von Marco Pantani – fast schon tot", sagt Ullrich in der ARD-Dokumentation "Being Jan Ullrich".
Ullrich wächst in Ostdeutschland auf, der Vater gewalttätig, die Familie zerrüttet, im Radsport findet er seine Leidenschaft. Mit 19 Jahren wird er Weltmeister bei den Amateuren, mit 23 hat er schon das Potenzial, die Tour de France zu gewinnen, doch er hält sich an die Regeln seines Sports und lässt seinem Teamkapitän Bjarne Riis den Vortritt.
- 15. Juli 1997:
Es ist das Jahr des Jan Ullrich. Der Deutsche hat einen begnadeten Körper, einen Ruhepuls von 36 Schlägen, ein Lungenvolumen von fast sechs Litern. Wieder ist Ullrich stärker als Riis, auf der zehnten Etappe am 15. Juli gibt ihm der Däne das Zeichen, angreifen zu dürfen. Unwiderstehlich zieht der Jungstar mit seinem kraftvollen Tritt davon, gewinnt die Etappe und holt das Gelbe Trikot.
Drei Tage später demoliert er im Zeitfahren die Konkurrenz. Ullrich geht als Letzter ins Rennen und überholt den drei Minuten vor ihm gestarteten zweitplatzierten Richard Virenque. Mit 9:09 Minuten Vorsprung, dem größten seit 1984, gewinnt er eine Woche später das wichtigste Radrennen der Welt.

Schlampiges Genie
Ullrich bringt alle (körperlichen) Voraussetzungen mit, um viele Jahre lang im Radsport unschlagbar zu sein. „Jan Ullrich hat mir Angst gemacht, er hatte mehr Talent als ich“, sagt etwa Lance Armstrong. Doch es ist der akribische Arbeiter und Perfektionist aus den USA, der in den Jahren 1999 bis 2005 sieben Mal in Serie die Tour gewinnt – bis ihm alle Titel wegen Dopings aberkannt werden. Armstrong: „Ich dachte mir: Zehn Jahre lang wird niemand diesen Typen schlagen können. Dieser Mann ließ mich früh aufstehen und früh zu Bett gehen.“
Das schlampige Naturtalent Ullrich kommt immer wieder mit Übergewicht aus der Winterpause. Zurückgeworfen wird er durch Verletzungen, es folgt eine Dopingsperre, nachdem er in einer Diskothek Amphetamine genommen hat.

- 30. Juni 2006:
Lance Armstrong ist zurückgetreten. Es ist die große Chance für Ullrich. Einen Tag vor Beginn der Tour de France ist er endlich in der Form seines Lebens. Doch mit einem der größten Skandale der Sportgeschichte bricht alles zusammen. Mindestens 58 Radprofis sind in die Blutdoping-Affäre rund um den Sportmediziner Eufemiano Fuentes verwickelt, auch Ullrich. Alle Beschuldigten werden suspendiert, sein letzter Tag als Radprofi ist zu Ende. Ullrich ist am Boden, doch der wahre Abstieg folgt erst.
Tiefer Fall
Zu seiner Doping-Vergangenheit findet Ullrich im Gegensatz zu einigen seiner ehemaligen Kollegen keine klaren Worte, sportliche Schlagzeilen schreibt er nie wieder. Seine Geschichten drehen sich um falsche Freunde und Drogen, Alkohol und Amphetamine, Geldstrafen und Führerscheinentzug. Schwer betrunken verursacht er einen Autounfall, eine Prostituierte wirft ihm gefährliche Körperverletzung vor. Mit Sucht- und psychischen Problemen landet er endlich in einer Entzugsklinik.
Seine letzten Freunde haben nur noch eine Hoffnung. Sie alarmieren Armstrong, der zu Hause in Aspen (Colorado) sitzt. Tatsächlich besucht der ewige Rivale Ullrich auf Mallorca, und er ist geschockt: „Ich sah einen Mann an einem Ort, wie ich noch nie ein menschliches Wesen zuvor gesehen habe.“ Ein paar Wochen später muss Armstrong wieder als Nothelfer einspringen, nachdem Ullrich in einem Flugzeug randaliert hat und in eine Klinik verfrachtet wurde.
Dass Jan Ullrich seinen Absturz überlebt hat, grenzt für viele seiner Bekannten an ein Wunder. Von Freunden wird er mit Sorge beobachtet, aber auch mit Hoffnung. „Jan ist stabil“, sagt Lance Armstrong. „Aber es liegt noch ein langer Weg vor ihm.“
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