Bobfahren in St. Moritz mit 135 km/h

Zum fünften Mal werden in St. Moritz derzeit WM-Medaillen im Skifahren vergeben. Weit mehr Tradition hat das Luxus-Ressort im schweizerischen Oberengadin aber wegen seiner Geschichte in den Eissportarten Curling, Cresta, Skeleton und Bob. Hier steht auch der berühmteste Natureiskanal der Welt. Bei Gästefahrten kann jedermann das 135 km/h schnelle Vergnügen selbst ausprobieren.

Jeden Tag um 11.00 Uhr finden diese Fahrten statt. Schon das Warten nach der Anmeldung ist ein Erlebnis. Im Gebäude des St. Moritz Bobsleigh Club befindet sich nächtens mit dem "Dracula Club" von Gunter Sachs jener legendäre Herren-Club, in den nur zu besonderen Anlässen Damen geladen werden. Der Platz an dem die Bobbahn beginnt, heißt Sachs zu Ehren "Piazza Gunter Sachs".

Reliquien des 2011 verstorbenen Industriellen-Erben und Gentleman-Playboys sind in Moritz allgegenwärtig. Selbst Sachs' goldene Manschettenknöpfe sind im nahen Kulm-Hotel ausgestellt. Sohn Rolf ist sein Nachfolger als Präsident des Bob-Clubs.

Balaklava und Helm sind die einzigen Utensilien, die man für den 75 bis 80 Sekunden dauernden Adrenalin-Kick in der 1.722 Meter langen Natureisbahn über 17 Kurven hinunter ins Nachbardorf Celerina benötigt. Zwei Mal wurden hier schon Olympia-Medaillen vergeben. Vorne und hinten sitzen professionelle Lenker und Bremser, dazwischen die Gäste. Im Gegensatz zu anderen Bahnen wird man in St. Moritz ermutigt, den Kopf oben zu halten, um die Fahrt zu genießen.

Der Bobsport wurde im 19. Jahrhundert in St. Moritz - und einiges andere mehr - praktisch von englischen Wintersportgästen erfunden. Zuerst "rodelte" man auf der Straße hinunter nach Celerina. Das störte die Fuhrwerker, seit 1904 und bis heute wird deshalb aus Schnee und Eis alljährlich mittels Schaufel und Schlauch eine Bobbahn aufgebaut.

Die größte Eis-Skulptur der Welt ist per Hand so perfekt geformt, dass man eine relativ ruhig Fahrt vor sich hat. Das und die immer besseren Bobs haben mit sich gebracht, dass vergangenen Jänner auf dem Olympic Bob Run erstmals Geschwindigkeiten von über 150 km/h möglich waren.

Den Gästen werden 135 km/h zugemutet, so lassen sich auch gemeine Kurven wie der berühmt- berüchtigte "Horseshoe" überstehen. Fast zweieinhalb Tonnen lastet in der hufeisenförmigen 180-Grad-Steilkurve auf dem Bob, Fliehkräfte von über 4 G drücken auf den Insassen. Den Kopf hat da nur noch der Pilot oben.

Der heißt in St. Moritz schon mal Christian Meili und ist ehemaliger Olympiastarter. Man fühlt sich also gut aufgehoben, wenn man in den engen Vierer-Schlitten gequetscht und nur von der Schwerkraft angetrieben schneller als auf der Autobahn hinunterrast, ohne angegurtet zu sein.

An der Bremse werkt an diesem Tag Angie Zaninetta. Die Zürcherin hat mit 36 Jahren begonnen, sich mit dem Besuch der Bobschule einen Kindheitstraum zu erfüllen. Fünf Jahre lang lenkte sie Zweierbobs bis hinauf zum Europacup. Vier Stürze hat sie erlebt, den ersten in Innsbruck.

Man kann Bobfahren nicht langsam lernen wie Autofahren. Simulatoren gibt es nicht wirklich. Selbst die herzigen Mono-Bobs, mit denen angehende Bob-Piloten anfangs in die Bahn gestoßen wird, sind trotz "langsam" eingestellter Kufen 110 km/h schnell. Man wird also praktisch ins Wasser geworfen, um Schwimmen zu lernen.

Und wenn was passiert? "Dann hat man hoffentlich gelernt, alles einzuziehen, was kratzt", laute der launige Kommentar eines erfahrenen Piloten. Aber auf 80 bis 100 Fahrten kämen ohnehin nur zwei oder drei Unfälle, winkte der gute Mann ab.

Jede Gästefahrt wird auf einem riesigen Screen am Start sowie einem TV-Bildschirm in der Bar der Sachs-Lodge, alias "Starthaus Dracula", gezeigt. Die Namen jeden Gastes kommen ins Insert und werden lautstark aufgerufen. Nach überstandener Fahrt erhält man die "Bob-Taufe" in Form einer Urkunde.

Am rennfreien Tag der Ski-WM absolviert auch Dominique Gisin eine Gästebobfahrt. Die regierende Abfahrts-Olympiasiegerin war 2014 parallel zu Roger Federer Schweizer Sportlerin des Jahres, der Startsprecher ist aus dem Häuschen. "Dominique, willst du nicht eine Bob-Karriere starten?", versucht er über Mikrofon und Lautsprecher die Athletin zu motivieren, den Schweizer Nationalsport ernsthaft anzugehen.

Gisin hat zwar einst mit Kampfjets geübt und in St. Moritz schon die Ex-Leichtatletin "Lolo" Jones angefeuert, die zum Bob gewechselt hat. Die Ex-Rennfahrerin selbst zeigt aber keine Ambitionen. "Mir fehlt für diesen Sport die Schnellkraft", beteuert Gisin, die bei der Hälfte ihres Physikstudiums angelangt ist.

Wechselt man die Straßenseite, stößt man auf den seit 1887 existierenden St. Moritz Tobogganing Club. Hier wird auf dem noch drei Jahre älteren Cresta Run jener ursprüngliche Schlittensport zelebriert, den Jetset-Held Sachs salonfähig gemacht hat und bei dem man(n) auf einem Brett mit Kufen liegend Kopf voraus durch eine ebenfalls per Hand gebaute Natureisbahn rast.

Heute ist kein guter Tag. Zwei Unfälle hat es beim Test-Rennen für das kommende "Grand National" gegeben, Rettung und Polizei sind zugegen.

Da sind die Bob-Gästefahrten eher die sichere Nummer. 250 Franken kostet dort freilich das Vergnügen. Ein Schaumwein-Cüpli, ein Souvenir und die besagte Urkunde inklusive.

Doch der Gegenentwurf ist auch aus Eis nicht fern vom noblen St. Moritz mit seinen fünf Fünfstern-Hotels. Vorbei am höchsten Flughafen Europas liegt talauswärts Madulain. An die 300 Einwohner hat das Dorf nahe Zuoz, wo die Ski-Exoten derzeit um die Qualifikation für die großen WM-Rennen in St. Moritz kämpfen.

In Madulain hat die Gemeinde den einen Kilometer langen "Eisweg" geschaffen. Auf dem kann man auf einem vom Eismeister perfekt präparierten Eis wunderbar gemütlich den Inn-Fluss entlang skaten. Spaß- und Romantikfaktor: Hundert Prozent. Kosten: Null.

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