... und wieder neun Buchtipps
Verbrannte Fleischlaberln
Es hat keinen Sinn, sich darüber aufzuregen, dass die irischen Kriminalromane der gebürtigen Amerikanerin Tana French immer zu lang sind. Sie sind nämlich auch immer atmosphärisch sehr gut – in der Länge, in der sie geschrieben wurden. "Gefrorener Schrei" ist (nach "Geheimer Ort") das zweite Buch mit den Dubliner Kriminalbeamten Antoinette Conway und Stephen Moran. Dass eine Frau tot in ihrer Wohnung liegt, im Backrohr verbrannte Fleischlaberln, ist weniger wichtig als das Innenleben der Helden. Wie das ist, wenn man von Mutter nie erfahren hat, wer der Vater ist, interessiert ja auch viel mehr.
Tana French: "Gefrorener Schrei" Übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Scherz Verlag. 656 Seiten. 17,50 Euro.
KURIER-Wertung: ****
Vorne Erde, hinten Wasser
Das beste Kinder-Sachbuch von 2016: „Vorne“ klettert man unter die Erde, zu Regenwürmern zuerst und Baumwurzeln, zu Fossilien, ins Bergwerk, ins tiefste Bohrloch (12.262 m) – bis zum Mittelpunkt der Erde, der, aha, gar nicht flüssig ist. Dreht man dieses große, grafisch herrlich gestaltete, polnische Buch um, so wird es blau, und man taucht ins Wasser: zum Anemonenfisch, zum chinesischen Jiaolong-U-Boot, zur Titanic, zu 70 cm großen Riesenasseln, in den Marianengraben – wieder bis in die Mitte. Es ist unvorstellbar, dass Eltern diesen Schatz „kampflos“ ihren Kindern überlassen werden.
Aleksandra Mizielinska und Daniel Mizielinski: „Unter der Erde – Tief im Wasser“ Übersetzt von Thomas Weiler. Moritz Verlag. 112 Seiten. 29.90 Euro.
KURIER-Wertung: *****
Lachse sterben neben Babys
So stellt man sich einen klassischen russischen Roman vor (und genau das ist „Asche und Staub“): In der sibirischen Taiga werden Fallen für Zobel aufgestellt, die Bewohner sind wortkarg, mit Kaviar werden illegale Geschäfte und Machtspiele gemacht ... aber das schönste, schrecklichste Bild – man weiß so vieles nicht ! – ist jenes von den Lachsen: Wenn das Weibchen gelaicht hat und das Männchen eine weiße Milchwolke über die nicht zu sehenden Eier gelegt hat, dann werden die Eltern blind und sterben, und zwar sterben und verwesen sie gleich neben ihren „Babys“, damit die etwas zum Essen haben.
Viktor Remizov: „Asche und Staub“ Übersetzt von Annelore Nitschke.
dtv. 360 Seiten. 22,70 Euro.
KURIER-Wertung: ****
Warum man Seepferdchen mag
Frau Luba hat Humor. Sie sagt: „Ich mag Seepferdchen. Bei denen werden die Männchen schwanger.“ Frau Luba ist schwanger. Sie führt darüber Buch. Und weint. Über das Leben, das vorbei ist. Über das Leben, das beginnt. Über die Liebe, die alles überdauert ... Die Südtirolerin Selma Mahlknecht, ein 1979er Jahrgang, hat schon seit mehreren Romanen einen Ton drauf, den man gern hört bzw. liest; auch, wenn es nicht gerade das Thema ist, das z.B. Seepferdchen vorrangig beschäftigt. Selbst mit Weihnachtsgeschichten überzeugte Mahlknecht einst: „I have a dream of Aspirin.“
Selma Mahlknecht: „Luba und andere Kleinigkeiten“ Edition Raetia.
384 Seiten. 21,90 Euro.
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern
Verlorene Zeit gibt es nicht
Franz J. Schweifer ist Zeitforscher, Zeit-Verlängerer, Temposoph mit Büro in Mödling bei Wien. Das afrikanische Sprichwort hat er sehr gern: „Als Gott die Zeit erschuf, hat er von Eile nichts gesagt.“ Soll niemand sagen, er habe so viel Zeit verloren ...das kann nicht sein, denn es gibt keine Fundstelle für Zeit. Was also ist das Problem, das wir mit der Zeit haben? Schweifers Essays zum Thema sind arrabbiata, manche sogar noch würziger – puttanesca sozusagen. Das kann man heutzutage sehr gut brauchen. Schwer verdaulich ist allerdings der absurd hohe Preis, den der deutsche Verlag festgesetzt hat.
Franz J. Schweifer: „Tempo all’arrabbiata“
Verlag Dr. Kovač, Hamburg. 182 Seiten. 39,90 Euro.
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern
Titelgeilheit ist ein Wert
Ganz wichtig für neue Österreicher: Sie müssen die Werte kennen. Wird ja viel darüber geredet. Vielleicht nicht unbedingt über jene Werte von A wie Alkohol über Arschkriechen, Leberkäse bis Titelgeilheit. Aber damit kann man sich auch beschäftigen – zum Auflockern.
Hydra: „How to be Österreich“ Milena Verlag.
140 Seiten. 16,50 Euro.
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern
Wie man alles verpasst
Es ist wichtig, gut vernetzt zu sein. Dann ist man stets informiert und weiß genau, was es alles im Leben – zu verpassen gibt ... Die in Wien lebende Almut Tina Schmidt aus Göttingen hat die Ironie, um erträglicher zu machen, dass es hier und jetzt unspektakulärer zugeht als - im Fernsehen? in der Literatur?
Almut Tina Schmidt: „Zeitverschiebung“ Droschl Verlag.
192 Seiten. 19 Euro.
KURIER-Wertung: ****
Albanische Verwandlung
Ein neuer Verlag, kaum ein Jahr alt – und schon der erste „Hammer“: In Albanien ist es immer noch der surreal anmutende Brauch, dass eine Frau, die nicht die vorgesehene Heirat eingehen will, offiziell Mann sein darf. ASie wird dann mit allem Respekt in der Männerwelt aufgenommen. Diese schreckliche Gefühlswelt - in diesem Roman der albanischen Drehbuchautorin, Dokumentarfilmerin und Schriftstellerin Elvira Dones ist sie zu spüren.
Elvira Dones: „Hana“ Übersetzt von Adrian Giacomelli.
Ink Press, Zürich. 280 Seiten. 19,60 Euro.
KURIER-Wertung: ****
Eine Frau rief zum Gebet
Diesem Buch vorangestellt ist ein Satz, den der Prophet Mohammed angeblich gesagt hat: „Streben nach Wissen ist mehr wert / als ein ganzes Leben im Gebet.“ Na bitte. Damit dürfte alles klar sein. Der Roman „Bilqiss“, geschrieben von der Marokkanerin Saphia Azzeddine, hilft bei diesem Streben: Eine junge Frau soll gesteinigt werden. Sie hat anstelle des alkoholbedingt schlafenden Imams im Dorf zum Morgengebet aufgerufen. Und sie wagt es, sich im Prozess zu verteidigen. Sie entlarvt die Scheinheiligkeit und stellt sich gegen falsche Interpretationen des Koran. Nicht nur der Richter ist fasziniert von ihr.
Saphia Azzeddine: „Bilqiss“ Übersetzt von Birgit Leib. Wagenbach Verlag.
176 Seiten. 20,60 Euro.
KURIER-Wertung: ****
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