Kulturhauptstadt Matera: Die einstige „Schande“ Italiens

Matera, die europäische Kulturhauptstadt 2019.
Der süditalienischen Kulturhauptstadt 2019 gelingt ein perfekter Spagat zwischen Frühgeschichte und Zukunft.

Wo beginnen? Unten oder oben? Die steil im Fels aufragende süditalienische Stadt Matera bietet von allen Seiten faszinierende Ansichten. Unser Tipp: Bei der Kirche San Pietro Caveoso in der Unterstadt beginnen – und eine unglaubliche Zeitreise antreten.

Die Szenerie wirkt surreal, nahezu biblisch: Im gleißenden Sonnenschein leuchten weißlich-gelb die Fassaden der unzähligen Grotten und Höhlenwohnungen im Tuffstein. Diese berühmten „Sassi“ (italienisch für „Steine“) bilden ein Labyrinth aus übereinander geschichteten Behausungen, verschlungenen Gässchen, steilen Treppen und engen Durchgängen. Ganz oben thront der spitze Turm der Kathedrale – als Zeuge barocker Pracht. Darunter herrscht die Steinzeit – im doppeldeutigen Sinn.

Kulturhauptstadt Matera: Die einstige „Schande“ Italiens

Logenplatz im Hotel Locanda di San Martino mit Blick auf den Höhlen-Stadtteile Sasso Caveoso.

Matera zählt zu den drei ältesten, kontinuierlich bewohnten Siedlungen der Menschheit“, erklärt Stadtguide Dora Cappiello stolz, „zusammen mit Jericho und Aleppo. Unsere Geschichte ist 10.000 Jahre alt.“ So wundert es nicht, dass bekannte Regisseure dieses archaische Stadtbild als Kulisse ihrer Historienfilme wählten – u. a. „Passion Christi“ und „Ben Hur“.

Um die Sassi-Metropole Matera zu verstehen, muss man ihre Geschichte kennen: Der Platz mit den zahlreichen natürlichen Höhlen im weichen Tuffstein bot ideale Lebensbedingungen von der Jungsteinzeit an. Im 10. Jahrhundert erlebte die Grottenstadt einen bescheidenen Aufschwung, bis ins 17. Jahrhundert hinein bestand sie aber nur aus Sassi, zahlreichen Höhlenkirchen und winzigen hängenden Feldern.

Prunk, dann Armut

Doch dann, von 1663 bis 1806, wurde Matera Hauptstadt der süditalienischen Provinz Basilikata und stieg raketenhaft empor. Menschenmassen und Glücksritter strömten herbei, die Reichen bauten oben am Hochplateau „Il Piano“ prunkvolle Barockpalazzi.

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Die Kirche San Francesco in der barocken Oberstadt.

Unten blieben die Armen. Je tiefer, umso miserabler – wie die Höhenschichtlinien sozialer Strukturen. Nach 1806, als der Hauptstadt-Tross weiterzog, verarmten in Matera alle und jedes feuchte Höhlenloch musste besiedelt werden. Die Lebensbedingungen ohne Wasser und Strom glichen bis Mitte des 20. Jahrhunderts denen der Jungsteinzeit. Die Kindersterblichkeit lag bei 45 Prozent, 1952 war Matera die „Schande Italiens“.

Sozialpläne folgten, 1983 der Titel UNESCO-Weltkulturerbe. Mit ihm erschien Matera auf der touristischen Landkarte. Als 2014 bekannt wurde, dass die Höhlenstadt European Capital of Culture 2019 wird, jubelten alle. „Matera kann keine Monumente verkaufen, weil wir die nicht haben, aber wir können die Geschichte der Menschheit erzählen“ sagt Ariane Bieou, Kulturmanagerin der Stiftung Matera Basilicata 2019.

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Die einstigen Höhlen (Sassi) sind heute stilvolle  Zimmer  –   Hotel Locanda di San Martino.

Viel ist seither geschehen – und die einstige „Schande“ ist mittlerweile richtig schön, vom Elend ist nur mehr das Pittoreske über. Viele der Sassi wurden in komfortable Hotels, Restaurants, Andenkenläden, Kunstgalerien oder Museen (z. B. Casa Noha oder Casa Grotta di Vico Solitario) umgewandelt. Doch Stadtguide Dora kritisiert, dass die Höhlen-Stadtteile Sasso Caveoso und Sasso Barisano eher lebendige Museen sind. „Herunten will niemand wohnen, das Leben hier ist zu beschwerlich. Die Einheimischen wohnen lieber oben am Il Piano.“

Junge, lebendige Szene

Für seine Besucher kombiniert Matera spannend zwei Welten: unten lebendige Steinzeit-Archäologie mit archaisch-komfortablen Hotels und dörflichem Charme; oben die quicklebendige „moderne“ Barock-Altstadt mit italienischem Flair. Zentrum des Il Piano sind die Piazza Sedile und die Via Duomo.

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Bohnensuppe und Kichererbsen, typisch für die traditionelle Küche der Basilikata.

In der Mittagspause trifft sich die halbe Stadt im kleinen Restaurant L’Arturo und stärkt sich an der köstlichen Armeleuteküche der Basilikata wie z. B. Bohnensuppe. Abends verlagert sich das pulsierende Leben auf die Piazza Vittorio Veneto und die Via Ascanio Persio, dann ist ganz Matera auf ihrer „Passeggiata“ (Promenadespaziergang).

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Das kleine Lokal L’Arturo.

Matera 2019 soll auch ein großes Fest für die eigene Bevölkerung werden“, meint Ariane Bieou. Das Motto lautet „open future“. Idee ist, Geschichte und Zukunft zu verknüpfen – und dabei den Blick stets vorwärts zu richten. „Matera gewann den Titel nicht für seine Sassi, sondern für unser richtungsweisendes Projekt“, erklärt Ariane. Achtsamkeit und Nachhaltigkeit sollen den einstigen Schandfleck zum lebendigen Schatzkästchen der Menschheit machen.

Kulturhauptstadt Matera: Die einstige „Schande“ Italiens

Info

Anreise Flug Wien–Bari mit www.austrian.com,  weiter mit Pugliairbus (ca. eine Std.).

Unterkunft  Sextantio Le Grotte della Civita. Edelstes, luxuriösestes aber bewusst puristisches Höhlenhotel
(z. B. kein TV am Zimmer); DZ/F ab 340 €, www.sextantio.it
– 3* S-Locanda di San Martino – Hotel e Antiche Termae Romanae: Stilvoll-moderner Komfort, sogar mit Grotten-Pool und -Sauna; DZ/F ab 110  €, locandadisanmartino.it

Matera 2019 das  Programm spannt einen Bogen von den 10.000 Jahre alten schwarzen Löchern der Sassi-Höhlen zu jenen im Weltall.
Fünf Themenbereiche: „Roots and Routes“, „Continuity and Disruptions“, „Ancient Futures“, „Utopias and Dystopias“ sowie „Reflections and Connections“.
– Highlights: Vier Großausstellungen; Projekt I-DEA (anthropologische Geschichte der Basilikata); Performances „Quantum Danza“ (Kombination Theater und Quantenphysik);  Festa Madonna della Bruna (630. Jubiläum des Patronatsfestes, 2. Juli)
 
Auskunft matera-basilicata2019.it/en, www.basilicataturistica.it, enit.at

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