Wut ist keine kluge politische Kategorie
Der Wutbürger ist zum Massenphänomen geworden. Das ist gut, weil es Bürger dazu bewegt, sich an politischen Prozessen aktiv zu beteiligen. „Die da oben“ können sich nicht mehr alles erlauben. Problematisch ist allerdings die Tendenz, alle anderen außer die eigene Gruppe für schlechtere Menschen zu halten. Denn nun toben sich an jeder (Online-)Ecke Wutbürger aus, die undifferenzierten Zorn, gepaart mit Ohnmachtsgefühlen in sich hochkriechen spüren. Was bedeutet: „Die da oben“ sind auf jeden Fall zu bekämpfen. Von diesem unbestimmten Gefühl leben Protestparteien in ganz Europa momentan recht gut.
Dummerweise hat die Wutbürgerepidemie selbst die Regierenden erfasst. Wenn eine Innenministerin „Her mit dem Zaster“ ruft, dann ist das ein bisserl jenseits, liegt aber im Trend: Denn immer häufiger wird eine Interessengemeinschaft gegen die andere ausgespielt, und auch die Parteien sind dazu übergegangen, einander moralisch abzuwerten.
Leben und leben lassen
Im gar nicht so weit entfernten vorigen Jahrhundert galt ein paar Jahrzehnte lang die Devise „leben und leben lassen“. Man respektierte Andersdenkende in der Politik und anderswo. Die Schattenseite davon war allerdings, dass sich Rot und Schwarz das Land in großkoalitionärer Eintracht aufteilten. Dass dies in der schwarzen-blauen Regierungsperiode zumindest gestört wurde, haben die Sozialdemokraten den Schwarzen bis jetzt nicht verziehen. Daher wird an Wolfgang Schüssels Kanzlerschaft auch nicht das kleinste gute Haar gelassen. Umgekehrt können viele Bürgerliche nicht vergessen, dass Rote wegen der blauen Regierungsbeteiligung den Faschismus heraufdräuen sahen. Die SPÖ fühlte sich damals gedemütigt, sah einen Tabubruch. Dem ging allerdings bereits ein anderer Bruch voraus: der Verkauf der schwarzen Creditanstalt an die rote Bank Austria hinter dem Rücken der ÖVP durch Viktor Klima. Damals, 1997, entstand ein tiefer Riss in der Großen Koalition, jetzt ist eine Kluft daraus geworden. Die Folge? Wut bei den Koalitionspartnern, Wut bei den Wählern.
Doch Wut ist fast nie eine kluge politische Handlungsanleitung – und man schütze uns vor zu viel Emotion in der Politik! Mit Wut lassen sich Diktatoren stürzen und Bücher verkaufen, aber in funktionierenden Demokratien entwickelt sich daraus nur selten eine konstruktive Bewegung. Man denke nur aktuell an „Occupy Wall Street“, das so gut wie tot ist, oder das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“, das bei einer Volksabstimmung dann letztlich doch grünes Licht erhielt.
Wenn man sich für das neue Jahr etwas wünschen dürfte, dann wären es mehr Unaufgeregtheit und weniger Bösartigkeit in allen Bereichen. Es ist nicht notwendig, wegen jedes noch so geringen Anlasses gleich zum Wutbürger zu werden. Sollte Europa tatsächlich in eine Rezession schlittern, dann ist es pures Gift, wenn die Gegensätze unüberbrückbar werden. Das sollte uns die Erste Republik eigentlich gelehrt haben.
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