Wohngemeinschaften statt "Häuser des Grauens"

Wohngemeinschaften statt "Häuser des Grauens"
Reformen: Die heutigen Betreuungseinrichtungen haben mit den Kinderheimen früherer Jahrzehnte nichts mehr gemein.

Das Milchglas an der Eingangstür soll neugierige Blicke abwehren. Besucher müssen anläuten und werden ständig von Videoaugen überwacht. Von außen sieht das Mädchenheim in der Aichhorngasse in Wien-Meidling nicht gerade einladend aus. "Wir haben hier eine Schutzzone für die Mädchen eingerichtet", sagt die Leiterin der Heims Gudrun Wildling.

1500 Kinder und Jugendliche leben derzeit in Wohngemeinschaften der Stadt oder eines Vertragspartners, weitere 1500 bei Pflegeeltern oder Verwandten. Es sind Kinder, deren Leben in der Familie nicht mehr möglich ist. Sie wurden Opfer körperlicher, psychischer oder sexueller Gewalt oder wurden stark vernachlässigt. Im Gegensatz zu früher wird heute in kleinen Teams mit den Jugendlichen gearbeitet.

Die Aichhorngasse ist eher die Ausnahme. Hier leben 22 Mädchen im Alter von 15 bis 18 Jahren, aufgeteilt auf zwei Teams in einer großen Wohngemeinschaft. Jedes hat sein eigenes Zimmer. Es gibt aber auch zentrale Räume wie Küche und Wohnzimmer. Zehn Betreuer kümmern sich abwechselnd um die Heranwachsenden. Rund um die Uhr ist ein Pädagoge vor Ort. 40 Prozent sind Schülerinnen, viele machen auch eine Lehre. Trotzdem kommen die Mädchen quer aus allen Schichten. Ein Mädchen besucht etwa das Lycée, trotzdem musste es in das betreute Wohnen flüchten. "80 Prozent der Mädchen, die hier sind, kommen freiwillig. 20 Prozent werden uns zugeteilt", sagt Wildling. Im Schnitt bleiben die Jugendlichen zweieinhalb Jahre.

"Die aktuellen Enthüllungen sind natürlich nicht angenehm", sagt Christoph Schandl, Stellvertretender Regionalleiter im Bereich Verselbstständigung und Wohnen. Heutzutage werden die Jugendlichen auf ihr eigenständiges Leben vorbereitet. " Das Ziel ist, einen Job und eine eigene Wohnung zu bekommen", sagt Schandl.

Wohngemeinschaft

Szenenwechsel: "Manchmal gibt es Streit mit den Betreuern. Meistens geht es dabei ums Essen. Aber eigentlich gefällt es mir hier sehr gut", erzählt die 15-jährige Celine. Sie wohnt seit eineinhalb Jahren in einer Wohngemeinschaft der Mag Elf ( so nennt sich die Magistratsabteilung 11 ) im Norden Wiens. Auf 200 m² leben acht Kinder vom Vorschul- bis zum Teenager-Alter. Nichts erinnert in den hellen, großen Räumen an die beklemmende Kinderheim-Atmosphäre früherer Jahrzehnte.

Der Tagesablauf ist nur sehr grob strukturiert. Zwischen den Fixpunkten Aufstehen, Schule, Lernen und Abendessen soll möglichst viel Zeit für die individuelle Betreuung der Kinder bleiben. Dabei geht es darum, Schwächen auf emotionaler und intellektueller Ebene aufzuspüren und zu beheben. Wenn nötig, werden die Kinder auch von externen Fachleuten unterstützt.

Am schwierigsten sind die ersten Wochen und Monate: "Die abrupte Trennung von ihrer Familie ist vor allem für die kleineren Kinder sehr traumatisierend", sagt Sozialpädagoge Stefan Linska. Viele würden in dieser Phase unter massiven Schuldgefühlen leiden.
Von Anfang an zielt die Arbeit der Betreuer darauf ab, die Kinder so bald wie möglich in ihre Familien zurückzuführen. "Deshalb nehmen wir die Eltern immer mit ins Boot", betont Linska.

Auch er ist über die jetzt bekannt gewordenen Vorfälle schockiert. "Heute sind die Rahmenbedingungen aber ganz andere." Dies fange schon bei der Ausbildung der Betreuer an , die sich zudem regelmäßig Supervisionen unterziehen müssen. Anders als bei der kasernenartigen Unterbringung früherer Jahre bleibe heute der Kontakt zur Außenwelt bestehen - allein schon durch den Schulbesuch. Dass es in Einzelfällen dennoch zu Übergriffen kommt, will aber Linska nicht völlig ausschließen.

Ähnlich auch Regionalleiterin Bettina Terp: "Ich würde mir nicht anmaßen zu sagen, dass Übergriffe überhaupt nicht mehr vorkommen. Man kann nie garantieren, dass es nicht zu Situationen kommt, in denen Betreuer überfordert sind."

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