Rot gegen Schwarz auf Französisch

Rot gegen Schwarz auf Französisch
Der KURIER begleitete eine sozialistische und eine bürgerliche Kandidatin. Für beide steht die Wohnungsnot im Brennpunkt.

Audrey Linkenheld kann manchmal unwirsch werden: „Die Wähler sind keine Kinder. Wenn mir welche mit Pauschalvorwürfen gegen die Politiker kommen, verweise ich sie auf ihre eigene Verantwortung", sagt die Stadtbeauftragte für Wohnbau der nordfranzösischen Metropole Lille und angehende SP-Parlamentarierin.

Am Sonntag wird Linkenheld mit Sicherheit ihren Sitz in der französischen Nationalversammlung erringen. Laut Umfragen dürften die Sozialisten von Präsident François Hollande im zweiten Durchgang der Parlamentswahl allein – also sogar ohne ihre grünen Koalitionspartner – die absolute Mandatsmehrheit schaffen.

Die 39-jährige Linkenheld hatte bereits im ersten Wahlgang am vergangenen Sonntag mit Knochenarbeit mehr Stimmen erkämpft als der bisherige, ältere SP-Abgeordnete, den sie ablösen wird. „Seit zwei Monaten bin ich täglich früh und abends unterwegs, um alle Wähler kennenzulernen." Auf einem Flohmarkt wird sie ständig angehalten. Anrainer treten aus zweistöckigen Backsteinbauten, um sie zu ermutigen, junge Leute bitten um Hilfe bei der Wohnungssuche. In Frankreich gelten Abgeordnete als direkte Anlaufstelle für Alltagssorgen und soziale Anliegen. Wenn sie vor Ort ansprechbar bleiben, wird ihnen ihre häufige Abwesenheit im Parlament nachgesehen.

Wohnungssuche

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Die Wohnungsnot und die horrenden Mieten sind allgegenwärtig. Lille gilt zwar als vorbildlich, weil die rotgrüne Rathausmehrheit den Sozialbau forciert und auch bei privaten Immobilienprojekten 30 Prozent Sozialwohnungen vorschreibt. Aber die kulturell und ökologisch aufblühende Stadt, die per Hochgeschwindigkeitsbahn nur mehr eine Stunde von Paris entfernt liegt, erlebt einen Zuzug von Familien aus der Hauptstadt, die zur Arbeit nach Paris pendeln. Das schmälert das Wohnungsangebot im Großraum Lille, wo die Hälfte der Bevölkerung aus Niedrigverdienern besteht.
Linkenheld wuchs selber in einem Sozialbau in Straßburg auf, als Tochter einer Deutschen und eines Elsässers, der noch immer nach Deutschland zur Arbeit in einer Druckerei pendelt. In ihrer Familie war sie die Erste, die maturierte.
Ärgerlich wird sie, wenn Bewohner auf noch Ärmere, etwa Migranten, neidig sind: „Die wollen Sozialhilfen nur für sich. Und messen sich mit Nachbarn, während sie von den wirklichen Privilegierten keinen Schimmer haben." Linkenheld ist auch in Minderheitenanliegen engagiert. Die verheiratete Mutter eines Kindes, die alljährlich an der „Gay-Pride" teilnimmt, verschafft Homosexuellen Ersatzwohnungen, wenn sie von Nachbarn gemobbt werden.

Trauer um Sarkozy

Gegen Diskriminierung kämpft auch Nathalie Fanfant, die für die bürgerliche UMP im volkstümlichen Nordosten von Paris kandidiert. „Manche wundern sich darüber. Aber wo steht geschrieben, dass die Linke Menschen mit schwarzer Hautfarbe für sich gepachtet hat?", fragt Fanfant, die von der Karibik-Insel Martinique stammt. „Ich habe eine unternehmerische Ader", betont die 41-jährige Gründerin einer Event-Agentur. Mit der Niederlage von Nicolas Sarkozy habe Frankreich einen Präsidenten verloren, „der immer den anderen drei Runden voraus war", bedauert Fanfant: „Ich vertrage den Armutskult und die Sozialstützen-Wirtschaft der Linken nicht."

Dass die UMP sie zur Anti-Diskriminierungsbeauftragten ernannte, sieht sie nicht als Einkastelung: „Unter Diskriminierungen leiden ja nicht nur Schwarze und Araber, sondern zahllose andere Menschen, Frauen, Behinderte, Alte." Fanfant ist freilich Kandidatin in einem Wahlkreis, in dem für die SP ebenfalls eine aus der Karibik stammende schwarze Frau kandidiert – die bisherige Abgeordnete George Pau-Langevin, die soeben zur Sonderministerin für Schul­erneuerung ernannt wurde. Sie gilt als unschlagbar.
Fanfant weiß das. Aber sie glaubt, dass sie sich gegenüber der dominanten SP einen Namen machen kann. In ihrem Wahlkampfbüro empfängt sie Vertreter eines Hilfsvereins für Wohnungssuchende. Sie wird mit der Frage konfrontiert, die den Bürgerlichen wehtut: Warum UMP-Gemeinden nicht die gesetzlich vorgeschriebenen 20 Prozent Sozialwohnungen errichten? Fanfant dreht das Argument um: „Fragen wir uns doch, warum die SP in diesem Bezirk 40 Prozent Sozialwohnungen konzentriert? Das ist Wählerfang. Da entstehen Gettos."

Vandalismus

„Die Regulierung der Mieten alleine schafft keinen Wohnraum, die Vermieter dürfen nicht entmutigt werden", argumentiert sie. Dann führt Fanfant den Ärger der Bevölkerung über Vandalismus und Kriminalität ins Treffen. Die Strafen seien zu milde, es gäbe zu wenig Betreuung für Jugendliche – eine problematische Argumentation gegen Linke, die gerade erst Sarkozy ablöst. Dieser ließ Tausende Polizisten- und Betreuerposten wegsparen.

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