Protestwelle gegen Schengen-Reform

Protestwelle gegen Schengen-Reform
EU-Mandatare fürchten, dass Regierungen Grenzen willkürlich kontrollieren lassen – und überlegen eine Klage vor EU-Gericht.

Die geplante Reform des Schengen-Systems hat eine heftige Auseinandersetzung zwischen den Innenministern der 27 EU-Staaten und dem Europäischen Parlament ausgelöst. Die Innenminister einigten sich am Donnerstag darauf, dass bei "außergewöhnlichen Umständen" für eine Dauer von bis zu zwei Jahren wieder Grenzkontrollen eingeführt werden können – und zwar durch jedes Land im Alleingang. Möglich wären dann Grenzkontrollen etwa bei starken Flüchtlingsströmen.

Die EU-Kommission hatte vorgeschlagen, diese Entscheidungen gemeinschaftlich zu treffen.

Das Papier der Minister muss noch vom EU-Parlament abgesegnet werden. Doch für die Parlamentarier quer durch die Fraktionen ist der Vorschlag "ein Schritt in die falsche Richtung", wie Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) sagt. "Die Reisefreiheit ist ein fundamentales Recht der Europäer und ein Eckpfeiler der EU", sagt der deutsche CSU-Mandatar Manfred Weber, stellvertretender Vorsitzender der Konservativen im Parlament.

Reisefreiheit

Die Parlamentarier befürchten, dass die Reisefreiheit zum Spielball nationaler Regierungen wird – und diese etwa in Wahlkampfzeiten ohne Not die Grenzen dichtmachen.

Für den sozialdemokratischen Fraktionschef Hannes Swoboda ist es "offensichtlich, dass die europäischen Regierungen die Freiheit haben wollen, die Schengen-Regeln nach Gutdünken auszusetzen und die Reisefreiheit der Bürger in ihrer heutigen Form rückgängig zu machen."

Die Europäische Volkspartei und die Sozialdemokraten erwägen den Gang vor den EU-Gerichtshof. Swoboda nennt die Vorgehensweise der Innenminister "scheinheilig": "Sie sagen, sie wollen mehr Gemeinschaft und praktizieren weniger Gemeinschaft." ÖVP-Mandatar Othmar Karas sagt: "Man kann nicht auf der einen Seite mehr Demokratie fordern und auf der anderen Seite die Parlamente entwerten."

Flüchtlinge

Auslöser für die Reform war der Zustrom von Flüchtlingen aus Nordafrika und der Türkei (siehe unten) . Derzeit können Staaten ihre Schengen-Grenzen im Notfall, z. B. bei Terror-Anschlägen und bei Großveranstaltungen wie etwa internationalen Tagungen oder Sportereignissen, für höchstens 30 Tage schließen, mit der Option auf Verlängerung bis zu sechs Monate. Neu ist, dass künftig bei "außergewöhnlichen Umständen" jeder Staat für sechs Monate wieder Grenzkontrollen einführen darf, und diese drei Mal, bis zur Gesamtdauer von zwei Jahren verlängert werden können.

Dauerstreit um illegale Migranten

Drei Hotspots sorgen seit eineinhalb Jahren für Rufe nach einer Schengen-Reform:

Italien / Frankreich Im Frühjahr 2011 gab Italiens Regierung für rund 23.000 Flüchtlinge aus Tunesien, die auf der Insel Lampedusa gestrandet waren, provisorische Schengen-Visa aus. Die meisten von ihnen brachen daraufhin per Zug Richtung Frankreich auf – viele Tunesier haben Verwandte in Frankreich. Der damalige Staatspräsident Nicolas Sarkozy forderte deshalb vehement die Wiedereinführung von Grenzkontrollen zu Italien. Auch über die westliche Mittelmeer-Route via Spanien drängen Flüchtlinge aus Afrika nach Frankreich.

Dänemark Die Entscheidung der früheren dänischen Regierung, Zollkontrollen an den Grenzen Dänemarks zu Deutschland und Schweden wieder einzuführen, sorgte für Empörung bei den Schengen-Partnern. Nach heftigen Protesten nahm die derzeit amtierende Regierung die Maßnahmen zurück.

Griechenland / Türkei Vollends Schengen-Alarm löste im Vorjahr die löchrige Schengen-Außengrenze Griechenlands zur Türkei aus: Um 17 Prozent stieg 2011 die Zahl der illegalen Immigranten nach Griechenland an der 12,5 Kilometer langen Landgrenze am Fluss Evros. Seither hat die EU-Grenzschutzagentur Frontex den Schutz der Grenze massiv verstärkt, sie konnte die illegale Immigration deutlich eindämmen.

Nicht nur den griechischen Grenzschützern, auch der Türkei wird vorgeworfen, zu wenig gegen diesen illegalen Migrationsstrom zu tun. Ankara fordert als Gegenleistung aber vehement Visa-Erleichterungen für türkische Bürger bei Reisen in die EU.

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