Paris besorgt über antijüdische Taten

Paris besorgt über antijüdische Taten
Nach dem Attentat auf eine jüdische Schule in Toulouse häufen sich Übergriffe auf die zunehmend bedrängte religiöse Minderheit.

Endlich wird darüber gesprochen", sagt David Serfati und fragt im selben Atemzug: "Aber nützt das was?" Weil er immer wieder beschimpft, manchmal angespuckt und bedroht wurde, trägt Serfati, ein junger orthodoxer Pariser Jude, sein religiöses Käppchen nicht mehr auf der Straße. Wie so manche seiner Glaubensgenossen registrierte er mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Pessimismus die kürzliche Aufmacherstory des Magazins Nouvel Observateur: "Antisemitismus, was man nicht zu sagen wagt".

Aus dem Ausland betrachtet mag der Titel zu Missverständnissen Anlass geben. In Frankreichs Mehrheitsgesellschaft ist Judenhass kaum mehr erkennbar. Auch die Rechtspartei "Front National" unter Marine Le Pen hat diese Variante der Vorurteile abgestreift und die Juden zum integralen Bestandteil der Nation erhoben.

Nachahmer-Effekt vermeiden

Die Gefahr für Frankreichs Juden kommt fast ausschließlich von Jugendlichen aus arabisch-nordafrikanischen und afrikanischen Familien mit muslimischen Glauben, und da auch wiederum von einer kleinen Minderheit in städtischen Randvierteln. Und gerade deswegen scheuen Journalisten, Lehrer oder Lokalpolitiker manchmal vor allzu viel Aufsehen um anti-jüdische Taten – wollen sie doch der Stigmatisierung der Muslime keinen weiteren Auftrieb verleihen und die Diskriminierung der Jugendlichen aus Migrantenfamilien, etwa bei der Jobvergabe, bekämpfen. Außerdem soll ein etwaiger Nachahmer-Effekt vermieden werden.

So hatte das Blutbad, das der El Kaida-Anhänger Mohamed Merah im März in einer jüdischen Schule in Toulouse verübt hatte (siehe unten) , eine "gewisse Beispielwirkung", wie es ein jüdischer Gemeindesprecher formuliert. Innerhalb der zwei Folgemonate wurden 286 antijüdische Zwischenfälle registriert, drei Mal so viele wie im April und Mai des Vorjahres .

Nur die brachialsten Angriffe sorgten für Schlagzeilen wie etwa im Fall von Villeurbanes, einem Vorort von Lyon: Dort wurden vier jüdische Jugendliche auf dem Weg zur Synagoge von einem Dutzend junger Nachbarn aus derselben Sozialsiedlung mit Eisenstangen und Hämmern überfallen. Einer der Angegriffenen entging nur knapp dem Tod. Daneben verblassen fast schon die Prügelorgien, die gelegentlich jüdische Kinder erleiden, wie zuletzt, als zwei junge Männer während einer Zugfahrt auf einen Schüler eindroschen, bis Mitreisende einschritten. Bekannt wurde dies aber nur, weil der Knabe dieselbe Schule besucht, in der Merah sein Gemetzel angerichtet hatte.

Fast noch mehr lastet auf Juden in ärmeren Vierteln die immer wieder kehrende Anmache, die Drohungen, der Vandalismus gegen Synagogen und koschere Speise-Lokale. Manchmal kommt es auch bloß zu Schlägereien zwischen pubertierenden, muslimischen und jüdischen Jugend-Cliquen, die auch für die Muslime schlecht ausgehen können. Aber dieses übliche Kräftemessen zwischen zahlenmäßig etwa gleich starken Gruppen ist eine Seltenheit, weil die Juden in diesen Vierteln meistens in der Minderzahl sind.

Allerdings leiden in sozialen Krisenzonen und ihrer Nachbarschaft viele Einwohner unter der Jugendgewalt, und auch katholische Kirchen werden vereinzelt zur Zielscheibe randalierender Halbwüchsiger. In diesem Rahmen vermeiden Juden häufig Beschwerden aus Angst vor den Tätern, aber auch weil sie den Vorwurf fürchten, sie würden sich als "Opfer hervortun". Dabei besteht kein Zweifel darüber, dass Juden, obwohl zahlenmäßig eine vergleichsweise kleine Gruppe, überdurchschnittlich oft von Jugendlichen angegriffen werden, die sich an der Schnittstelle zwischen Kriminalität und radikalem Islamismus bewegen.

Übergriffe streng geahndet

Frankreichs Entscheidungsträger und so manche Wortführer der Zivilgesellschaft, darunter etliche Muslime, sehen diesem Phänomen nicht untätig zu. Die Justiz ahndet antijüdische Übergriffe eher streng. Nach den Morden von Toulouse wurde in allen Schulen Frankreichs eine Schweigeminute organisiert. Dabei kam es in Vorstadtschulen zu Zwischenfällen, als sich Schüler weigerten , "Juden zu bemitleiden".

Innenminister Manuel Valls ist sich der Gefahr bewusst: "Mich beunruhigt der Antisemitismus, der sich aus dem Radikalismus nährt, der in unseren Vorstädten entsteht. Man sieht das schon in der Schule, wenn ein Bub seinem Professor sagt, sein Feind sei der Jude. Ich sorge mich wegen der Bilder, die die Satelliten-Antennen übertragen", meint Valls, selber Ex-Bürgermeister einer Vorstadt, in Anspielung auf arabische TV-Sender.

Präsident François Hollande erklärte beim Gedenken für die Massenfestnahme von Pariser Juden, darunter 4115 Kindern, 1942 unter der NS-Besatzung: "Wie damals starben auch in Toulouse Kinder, weil sie Juden waren. Es darf keine Schule geben, in der diese, unsere Geschichte nicht unterrichtet wird."

"Habe antisemitische Äußerungen in meiner Familie nie akzeptiert"

Paris besorgt über antijüdische Taten

Am 19. März erschoss der 24-jährige El-Kaida-Anhänger Mohamed Merah in einer jüdischen Schule in Toulouse drei Kinder und einen Lehrer. Zuvor hatte er drei Soldaten, die in Afghanistan gedient hatten, getötet.

Merah stammte aus einer zerrütteten Familie: Sein Vater hatte die Mutter misshandelt. Er verließ sie und ihre vier Kinder, als Mohamed fünf Jahre alt war. Dieser wurde Pflegefamilien anvertraut. Nach seiner Rückkehr schlug er die Mutter regelmäßig. Er wurde wieder entfernt und schlitterte in die Kriminalität. Er kam in Haft, beging einen Selbstmordversuch. Sein Bruder Abdelkader, 30, gewann ihn für radikal-islamische Ideen. Abdelkader ist jetzt wegen des Verdachts auf Mittäterschaft in Haft. Aber ein anderer Bruder, Abdelghani, 35, versuchte, sich dieser Fanatisierung zu widersetzen.

Das Magazin Le Point organisierte ein Gespräch zwischen Abdelghani Merah und dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden Frankreichs. Dabei sagte Abdelghani: "Die Wurzel des Hasses (die Mohamed zu seinen Taten antrieb) liegt in unserer Familie, in dem, was uns unser Vater vermittelt hat. Als ich erfuhr, dass sich Mohamed in Afghanistan aufhielt, habe ich mich gewundert. Da hat man mich als Ungläubigen bezeichnet, worunter ich gelitten habe. Mohamed ist für seine Handlungen verantwortlich, aber er ist auch indoktriniert worden, vor allem durch seinen Bruder Abdelkader. Ich habe versucht, meinen kleinen Bruder vor diesem Einfluss zu bewahren. Die Behörden wurden informiert, aber sie taten nichts. Die Dschihadisten bedienen sich der Jugend und nützen den Rassismus, den sie erleidet. Man muss aber betonen, dass viele Muslime die Juden lieben. Meine Frau hat jüdische Wurzeln, sie ist die Enkelin von Deportierten, ihre Großmutter trägt eine eintätowierte (KZ-) Nummer. In der Schule wurden wir im Geschichtsunterricht sensibilisiert. Die Leiden der Juden haben mich sehr berührt. Ich habe die antisemitischen Äußerungen in meiner Familie nie akzeptiert."

Juden & Muslime: Zahlen und Fakten

Ursprung Frankreich ist das Land Europas mit den meisten Juden und Muslimen. Die Mehrheit der rund 600.000 Juden und sechs Millionen Muslime stammen familiengeschichtlich aus den ehemaligen Kolonien in Nordafrika.

Nachbarschaft Juden und Muslime wohnen und arbeiten oft Tür an Tür in städtischen Randvierteln, die Juden sind in den Vierteln aber klar in der Minderheit.

Nahost-Konflikt Viele Muslime in Frankreich fühlen sich den Palästinensern eng verbunden. Umgekehrt haben viele Juden Verwandte in Israel. Denn viele Juden aus Nordafrika fanden in Israel eine neue Heimstätte.

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