Nur Tausende bei "Marsch der Millionen"

Zuletzt prangerten Mitte des Monats 27 Nobelpreisträger in einem Brief an Putin die Diskriminierung von Homosexuellen an. Der Protest gegen die neuen Gesetze möge zu einer Besinnung Russlands auf die "humanitären, politischen und alles umfassenden demokratischen Prinzipien des 21. Jahrhunderts" führen, äußerten die Unterzeichner in der britischen Zeitung Independent ihre Hoffnung.
In Russland folgten enttäuschend wenige dem Aufruf der Opposition, gegen Putin und dessen Politik zu demonstrieren.

Rücktritt von Präsident Wladimir Putin, vorgezogene Neuwahlen des Parlaments, Freilassung politischer Gefangener, umfassende politische Reformen und soziale Gerechtigkeit. Das waren die Losungen, die Teilnehmer einer Protestdemonstration gestern in Moskau auf Transparenten mit sich führten. Und eben diese Forderungen waren auch die Kernsätze einer Resolution, die auf der anschließenden Kundgebung per Akklamation verabschiedet wurden.

Als "Marsch der Millionen" hatten Udalzow und die anderen Führer der Protestbewegung den neuen Aufmarsch der Regimegegner angemeldet. In Anspielung auf eine Massendemonstration, mit der die Moskauer im Winter 1990 die Abschaffung jenes Verfassungsparagrafen erzwangen, der die führende Rolle der KP regelte. Es war der Anfang vom Ende der Sowjetunion, die sich knapp zwei Jahre später auf die Müllkippe der Geschichte verabschiedete. Putins Gegnern dürften ähnlich durchschlagende Erfolge vorerst kaum beschieden sein, Udalzow selbst wurde nach der Demonstration verhaftet.

Flohstich

Neutrale Beobachter zählten am Samstag maximal 16.000 Teilnehmer, die Polizei, selbst war mit einem Aufgebot von 7.000 Mann präsent. In etwa so viel kamen zu den ersten Massenprotesten nach den umstrittenen Parlamentswahlen Anfang Dezember letzten Jahres, die westliche Beobachter voreilig zur "Schneerevolution" hochjubelten. Schnee vom letzten Jahr im Wortsinn. Mit der Wirkung eines Flohstichs an Putins Wade, weit davon entfernt, das System ins Wanken zu bringen. Putins Gegner sind nach wie vor eine Minderheit besserverdienender Großstädter, ihr Wachstumspotenzial tendiert aus objektiven wie subjektiven Gründen bis auf weiteres gegen Null.

Liberale, Linke und Nationalisten eint bisher allein der Hass auf Putin und die Zwangsjacke, die dieser Russland anzog. Arbeitsfähige Strukturen und ein schlüssiges Programm – Voraussetzung für den Quantensprung von amorphem Protest zu einer außerparlamentarischen Opposition, die von den Masen als reale Alternative wahrgenommen wird – scheiterten bisher an internen Rivalitäten und ideologischen Flügelkämpfen.

Potenzielle Sympathisanten schrecken zudem die drakonischen Verschärfungen des Versammlungsrechts und andere antidemokratische Gesetze ab, die das handzahme Parlament gleich nach Putins Rückkehr in den Kreml Anfang Mai beschloss. Dazu kommt, dass sich die Masse der Russen, wenn überhaupt, nur im Vorfeld von Wahlen und unmittelbar danach für Politik interessiert. Je weiter entfernt der Tag der Abstimmung, desto geringer die Teilnehmerzahlen der Proteste. Wenn Putin, der sein Amt erst 2018 verteidigen muss, bis dahin nicht irgendeine kapitale Eselei begeht, arbeitet die Zeit für ihn.

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