Zeitzeuge: "Die Neutralität ist überholt"
Ludwig Steiner, 90, Widerstandskämpfer und Teilnehmer an den dramatischen Staatsvertragsverhandlungen 1955, blickt im Interview mit dem KURIER auf das Österreich vor 57 Jahren zurück. Zugleich nimmt er Stellung zur aktuellen Debatte über Bundesheer und Neutralität sowie über den Zustand der Politik.
KURIER: Im Rückblick zeigt sich, dass die Staatsvertrags-Politiker 1955 enormen staatsmännischen Weitblick bewiesen haben, etwa, dass sie die Neutralität nicht im Staatsvertrag festschreiben ließen. Dadurch konnte Österreich seine Neutralität stets selbst auslegen, ohne Dreinreden der Alliierten.
Ludwig Steiner: Da gab es noch einen wichtigen Schritt davor: Ich war ja von 1953 bis 1958 Sekretär von Bundeskanzler Julius Raab – in einer wirklich interessanten Zeit. Vor allem die Entscheidung, mit den Sowjets direkt zu reden, war ja eine wichtige Wende. Denn bis dahin hatten wir Österreicher immer nur geschaut, dass wir im Westen gut dastehen – dann würde der Westen die Sowjets schon dazu bringen, dass sie aus Österreich abziehen. Mit Bundeskanzler Raab ist dann eine absolut wichtige Wende eingetreten. Denn er hat gesagt, die Sowjets haben ja ihren Fuß in Mitteleuropa, wir müssen uns auch damit auseinandersetzen. Das war der richtige Zugang, um eine neue Verhandlungsbasis für den Staatsvertrag aufzubauen. Raab hat immer gesagt: Jede Politik mit vernünftigen Kontakten zur Sowjetunion muss Früchte tragen – wenn das zu selbstverständlichen Beziehungen führt. Das war schon ein beeindruckender Weg.
Was waren die Unterschiede zwischen ÖVP und SPÖ beim Thema Neutralität damals?
Julius Raab war ja von seinem Bruder Heinrich, der Geschichtsprofessor in der Schweiz war und ihm seitenlange Briefe nach Wien geschickt hat, voll informiert, was die Neutralität bedeutet. Aber man muss ja heute die sozialistische Seite auch verstehen – damals hat man noch Sozialisten gesagt: Für sie war Neutralität ein anderer Begriff als für uns in der ÖVP. Für uns war das ein völkerrechtlicher Begriff, für die Sozialisten anfangs ein ideologischer – und daher in Abgrenzung zum Kommunismus negativ besetzt.
Aber dann wurde aus der Neutralität ja Bruno Kreiskys "aktive Neutralitätspolitik".
Das ist einer dieser politischen Kalauer. Es ist doch jede Politik aktiv. Die Idee, dass wir als kleiner Staat in Mitteleuropa eine besondere Funktion haben, ist ja irrig. Aber: Wir sollten unsere strategische Position in Mitteleuropa sehen, in einer stabilen Region, mit guten Beziehungen zu allen Nachbarn.
Stimmt das Bild von den guten österreichischen Verhandlern für den Staatsvertrag?
Ein Beispiel für die große Verhandlungsführung der Österreicher damals: In allen Verträgen, die wir mit der Sowjetunion abgeschlossen haben, gab es keine einzige Fehlleistung, weder in den Ablöse-Verträgen noch beim Deutschen Eigentum. Das ist alles bis ins Letzte präzise gemacht worden. Das war schon eine großartige Leistung und ist bis heute eine Vorzeigesache. Heute sagt man oft spöttisch: Das ist ja typisch österreichisch. Aber: Auch diese Präzision damals war typisch österreichisch. Das war damals echt gut gemacht, das muss man betonen. Wenn man heute immer wieder über Politik bei uns schimpft, muss man schon sagen: Wir haben in Österreich schon eine Periode gehabt, wo wir gute Politik im Interesse des Landes gemacht haben.
Mussten die Politiker 1955 große Widerstände in der Bevölkerung überwinden?
Wir mussten unseren Kurs in den Staatsvertragsverhandlungen ja immer wieder intern, innerösterreichisch, erklären. Das war immer wieder notwendig. Denn in der österreichischen Bevölkerung ist vor dem Staatsvertrag diese Politik mit den Sowjets ja völlig negativ gesehen worden. Alle waren überzeugt: Wennst mit denen redest, bist verloren. Das ist halt immer wieder das Gleiche in der Politik: Man muss zu Hause eine Vertrauensbasis für seinen Kurs aufbauen. Man darf die Unterstützung an der Heimatfront nicht verlieren.
Staatsvertrag, Neutralität und Bundesheer waren nach 1955 über viele Jahre lang Identitätsbegriffe Österreichs. Das ist heute nicht mehr so – siehe Neutralität und Bundesheer.
Selbstverständlich braucht jeder Staat ein Heer. Man muss ja nach außen hin die Positionen klarlegen – allein mit Worten ist das zu wenig. Man muss seine Bereitschaft zur Verteidigung klarlegen. Natürlich ist nicht ununterbrochen Krieg – aber man weiß nie, was kommt. Auch heute noch. Und wenn wieder einmal ein Flüchtlingsstrom an unsere Grenzen kommt, dann brauchen wir Leute, die die in Empfang nehmen. Daher: Man kann nicht einfach sagen, wir brauchen das Heer nicht, schaffen wir es ab. Natürlich ist die Frage der Wehrdienstdauer zu diskutieren. Man kann über die Länge der Dienstzeit selbstverständlich reden. Und man kann auch über einen sinnvollen Präsenzdienst reden. Auch über die Verwendung in Friedenszeiten.
Und was halten Sie von einem Berufsheer?
Aus meiner Erfahrung der ganzen politischen Zeit, die ich miterlebt habe: Also, ein Berufsheer hat wie jeder staatliche Organismus die Tendenz, sich zu perpetuieren. Und das ist bei einem Berufsheer nicht wünschenswert. Dazu kommt bei einem Berufsheer ein falsches Signal an die Bevölkerung. Ich halte das für gefährlich, wenn die Politik dem Bürger sagt: Du brauchst dich um nichts mehr kümmern, das zahlt alles der Staat. Da kommt ein Gefühl auf von: Das kostet eh gar nichts, da brauch ich mir auch gar keine Mühe geben. Das gilt allgemein in der Politik. Das Gefühl ist gefährlich: Ich zahl’ meine Steuern, und damit ist mein Beitrag für den Staat erledigt. Ich bin doch der Meinung, dass auch junge Leute ihren Beitrag für den Staat leisten sollen – aber natürlich in einem Tagesablauf, der auch wirklich Sinn macht.
Ist die Neutralität heute überholt?
In einer besonderen geopolitischen und historischen Position ist der Staatsvertrag entstanden, ist die Neutralität entstanden. Die Neutralität stellt sich heute anders dar. Wir sind doch heute ein einiges Europa. Gegen wen sollen wir in diesem vereinheitlichten Europa neutral sein: gegen England? Gegen Frankreich? Die Neutralität, so wie sie vor 57 Jahren gedacht war und beschlossen wurde, ist heute natürlich überholt, sie ist heutzutage irrelevant. Wir haben doch heute eine gemeinsame Verantwortung im Rahmen der europäischen Staaten. Ich bin dagegen, dass man solche politisch-technischen Begriffe aufrechterhält, die in der heutigen Situation nicht mehr adäquat sind.
Rückblickend: Hätten Sie sich vor sechs Jahrzehnten träumen lassen, dass sich Österreich so entwickelt, wie es heute ist?
Nein! Nein! Das hätte ich mir vor 60 Jahren nicht einmal zu träumen gewagt.
Zur Person Ludwig Steiner
Sein Einsatz für Österreich ist bis heute unermüdlich, sehr oft uneigennützig und manchmal sogar unbedankt: Ludwig Steiner blickt auf ein bewegtes politisches Leben zurück. Heute ist er der einzige lebende Teilnehmer an den entscheidenden Verhandlungen, die Österreich 1955 den Staatsvertrag brachten.
Doch die Etappen im Leben des Tirolers sind weit schillernder: Widerstandskämpfer. Von der ersten Stunde an Mitarbeit an der Wiedererrichtung der Republik Österreich. Aufbauarbeit in Tirol. 1948 trat er in den diplomatischen Dienst ein.
In Wien von 1953 bis 1958 Sekretär von Bundeskanzler Julius Raab. Mitglied der österreichischen Staatsvertragsdelegation. Staatssekretär im Außenministerium. Südtirolverhandler. Diplomat, Botschafter in Griechenland und Zypern. Von 1979 bis 1990 Abgeordneter zum Nationalrat, dabei außenpolitischer Sprecher der ÖVP. Zudem war Steiner von 1990 bis 1996 Präsident der Politischen Akademie der ÖVP.
Geboren wurde Ludwig Steiner am 14. April 1922 in Innsbruck. Er besuchte die Handelsakademie in Innsbruck. Schon ab 1943 war er im Widerstand (Gruppe 05) aktiv und an der Befreiung Innsbruck durch die Österreichische Widerstandsbewegung unter Karl Gruber beteiligt.
Ab 1945 studierte er an der Universität Innsbruck Volkswirtschaftslehre, das Stuidium schloss er 1948 mit dem Doktorat ab.
Es ist bezeichnend für seine politische Integrität, dass der ÖVP-Politiker, der aus seiner Weltanschauung nie ein Hehl gemacht hat, auch bei seinen politischen Gegnern hoch angesehen ist, etwa hoch gelobt für seine Vorsitzführung in den kritischen Untersuchungsausschüssen zur Lucona- und zur Noricum-Affäre.
Und Ludwig Steiner hat nie an die große Glocke gehängt, wie sehr er sich als österreichischer Botschafter in Griechenland von 1964 bis 1972 für die von der Militärdiktatur Verfolgten eingesetzt hat. Die griechischen Demokraten ehren ihn dafür bis heute noch jedes Jahr am Jahrestag des Sturzes der Militärdiktatur.
Schließlich war Ludwig Steiner von 2000 bis 2005 Vorsitzender des österreichischen Versöhnungsfonds über die Entschädigungszahlungen an ehemalige NS-Zwangsarbeiter und wurde dafür mit Lob überschüttet.
Seit 1954 war Ludwig Steiner mit Gattin Danielle verheiratet. Sie starb 2006.
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