Wolfgang Schäuble kritisiert das Moralisieren der Klimaschützer und Gender-Politiker
Der deutsche CDU-Politiker Wolfgang Schäuble war der Festredner bei der Eröffnung des sanierten Parlaments. In seiner Rede schrieb Schäuble die zunehmende Spaltung der Gesellschaft einer "Scientifizierung, Moralisierung und Polarisierung" zu und prangerte vor allem bei Rot und Grün gebräuchlichen Politikstil an. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka applaudierte Schäuble, SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner wiederprach dann beim nächsten Programmpunkt: Wisschaftliche Fakten seien unverzichtbar die Basis für politische Debatten. Auch Leonore Gewessler und Sigrid Maurer reagierten sichtlich unerfreut auf manche Schäuble-Passagen, zum Beispiel, als der CDU-Politiker kritisierte, dass für den Umweltschutz Straßenverkehr reduziert würde anstatt für neue Technologien offen zu bleiben.
Hier ist Schäubles Rede im Wortlaut.
Hohes Nationalratspräsidium, sehr geehrter Herr Bundesratsvorsitzender, liebe Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete, sehr geehrte Damen und Herren!
Ich freue mich sehr, heute bei Ihnen zu sein, in der Heimatstadt Karl Poppers, der mich in meinem politischen Denken stark beeinflusst. Hier in Wien, dessen Straßen mit Kultur gepflastert sind,
wie Karl Kraus es einmal formulierte. Ich freue mich vor allem, hier zu sein, weil die Wiedereröffnung dieses grandiosen Parlamentsgebäudes – ohne Zweifel ein Kulturdenkmal – auch ein Fest des Parlamentarismus ist. Ein Fest der Demokratie.
Die Grundsanierung des historisch wertvollen Erbes und seine Weiterentwicklung zur modernen Wirkungsstätte des Parlaments ist ein starkes Zeichen der Wertschätzung für die Demokratie. Welche Mammutaufgabe es war, kann ich einigermaßen erahnen. Wir haben in Berlin auch unsere Erfahrungen mit Umbau und Sanierung des Reichstagsgebäudes – allerdings in einer kleineren Dimension. Und was ein Parlamentsumzug bedeutet, ist mir noch in lebhafter Erinnerung. Diese Leistung muss angemessen gewürdigt und gefeiert werden.
Zugleich ist dies ein guter Anlass, über den Wert der parlamentarischen Demokratie nachzudenken. Denn – auch wenn es uns manchmal so vorkommt – Demokratie ist nicht voraussetzungslos. Und schon gar nicht selbstverständlich. Ein Blick in die Geschichte genügt, um es zu erfahren.
Als im März 1848 Menschen vor der Wiener Hofburg für demokratische Rechte demonstrierten, soll Kaiser Franz Ferdinand gefragt haben: „Ja, dürfen’s denn das?“ Inzwischen ein geflügeltes Wort. Was uns heute vielleicht schmunzeln lässt, war damals unerhört. Heute ist Versammlungsfreit ein Grundrecht, das auch gerichtlich erstritten werden kann. Da sind wir bei der Notwendigkeit von checks and balances. Sie machen die Herrschaft der Mehrheit erst zu einer stabilen Freiheitsordnung.
Wir in Deutschland haben lange gebraucht, bis wir von einer „geglückten Demokratie“ sprechen konnten. „Wege – Irrwege – Umwege“ heißt eine Ausstellung des Deutschen Bundestages zur Geschichte unserer Demokratie. Der Titel beschreibt gut die wechselvolle Entwicklung hin zu einem demokratisch verfassten Rechtsstaat in Deutschland.
Nein, Demokratie ist nicht selbstverständlich und nicht voraussetzungslos. Wir müssen sie uns immer aufs Neue erarbeiten. Der zentrale Ort der Demokratie ist das Parlament – das Forum der Nation. Deswegen möchte ich bei diesem feierlichen Anlass einige Gedanken über das – wie es mir scheint – oft verkannte Prinzip der Repräsentation formulieren Ein demokratisches Prinzip, das nach wie vor unverzichtbar ist. Und herausgefordert. Denn Repräsentation wird zunehmend mit Repräsentativität verwechselt.
Wir Abgeordnete sind aber nicht Vertreter nur bestimmter Regionen oder einzelner gesellschaftlicher Gruppen, sondern des ganzen Volkes. Hinzu kommen multiple Krisen, die wir seit Beginn des 21. Jahrhunderts in immer kürzeren Intervallen erleben – von der terroristischen Gefahr, über die Finanz-, Euro-, Migrations-, Klima- und Corona-Krise bis zum Krieg mitten in Europa. Wir leben sozusagen im Dauerkrisenmodus.
Aber die gefährlichste Krise ist vielleicht die der rechtsstaatlichen Demokratie selbst. Das beobachten wir fast überall auf der Welt. Die politischen Wissenschaften sehen eine Tendenz zur Spaltung der demokratischen Gesellschaften durch Szientifizierung, Moralisierung und Polarisierung.
In jüngster Zeit hat gerade die Pandemie die Verwissenschaftlichung der Politik und gleichzeitig die Politisierung der Wissenschaft vorangetrieben. Eine ambivalente Entwicklung. Die Klagen über die Krise der Demokratie sind übrigens nicht neu. Eigentlich so alt, wie die Demokratie selbst.
Inzwischen lassen sich wahrscheinlich Regalmeter füllen mit Analysen, die das Bild eines politischen Systems im Verfall zeichnen. In der Bibliothek unseres Bundestages haben wir auch einen älteren österreichischen Beitrag zur Krise der Demokratie aus dem Jahre 1914. Verfasst von einem Wiener Reichsratsabgeordneten Ernst Victor Zenker. Die Zustände in Österreich seien typisch für die allgemeine Krise des Parlamentarismus, beklagte damals der Autor. Vor diesem Hintergrund ist die zugespitzte Diagnose des britischen Politologen David Runciman folgerichtig: „Demokratie ist Krise.“
Krisen führen aber nicht automatisch in den Verfall, sondern sie wirken als Instrumente beständiger, notwendiger Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen. Krisen sind immer auch Chancen. Wir sollten unseren Fokus deshalb stärker auf die Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit der Demokratie richten im Sinne Karl Poppers. Auch für die freiheitliche Demokratie gilt: Semper reformanda – wie für die menschliche Natur an sich. Und die Kirchen sowieso.
Zweifel und Unbehagen am Funktionieren des westlichen demokratischen Systems mehren sich nicht erst seit der Pandemie. Bürger entziehen ihren Institutionen das Vertrauen – und übrigens auch ihren Mitbürgern. Sie verhelfen populistischen Vereinfachern in Parlamente und Regierungen oder wenden sich ganz vom öffentlichen Gemeinwesen ab. Soziologen sprechen von einem „unsichtbaren Drittel“, das sich in Politik und Gesellschaft kaum mehr wiederfindet und das auch kaum noch mitmacht.
Das rührt an den Kern unserer Demokratie: das Prinzip der Repräsentation. Genau jenes Prinzip also, das den historischen Erfolg der modernen Demokratie einst ausmachte: Erst Repräsentation ermöglichte politische Partizipation über Stadtstaaten hinaus in den sich entwickelnden Nationalstaaten. Erst dadurch konnte, so formuliert es Herfried Münkler, „die Demokratie in der Vorstellungswelt des Westens hegemonial werden.“
Für die Schöpfer der amerikanischen Verfassung war die Repräsentation auch die Antwort auf die religiöse, kulturelle und ethnische Vielfalt der Bürger. Zusammen mit den checks and balances sichert sie die Demokratie gegen ihre größte Versuchung: die „Tyrannei der Mehrheit“ in der Stimmungsdemokratie. Die repräsentative Demokratie setzt das Volk und seine Vertreter in ein potentiell konfliktreiches Verhältnis:
Da ist der Wille des Wählers, aber auch die Eigenständigkeit des Gewählten und die Abhängigkeit des einen vom anderen. Dolf Sternberger, der in Deutschland durch die Einführung des Begriffs „Verfassungspatriotismus“ – übrigens vielfach missverstanden – bekannt ist, sah genau in diesem wechselseitigen Spannungsverhältnis „das eigentlich vitale Geheimnis des Systems“. Für die Legitimität der repräsentativen Demokratie ist die Beziehung zwischen Repräsentierten und Repräsentanten jedenfalls zentral. Hier entscheidet sich, ob die parlamentarische Demokratie, wie wir sie kennen, Zukunft hat.
Die Frage ist: Wie gelingt es uns, das Prinzip der Repräsentation zu behaupten? Darauf gibt es keine einfachen Antworten in einer Gesellschaft, die sich pluralisiert, die bunter und individualistischer wird, die von der Globalisierung und vom beschleunigten digitalen Wandel herausgefordert ist, in der die Konflikte zunehmen und die Integrationskräfte von Parteien und Parlamenten schwinden. Nicht alles, aber vieles hängt mit der digitalen Kommunikation im vernetzten Raum zusammen. Internet und soziale Netzwerke ermöglichen neue Formen der Teilhabe und erleichtern es, sich einzubringen.
Damit verband sich einst die Hoffnung, das politische Gleichheitsversprechen der Demokratie einzulösen: Jeder sollte sich beteiligen und mitdebattieren können. Eine gigantische Demokratisierungsmaschine. Aber mehr Teilhabechancen bedeuten nicht automatisch mehr Partizipation – und auch nicht zwangsläufig mehr Akzeptanz für die am Ende getroffenen Entscheidungen Im Gegenteil
Internet und soziale Medien fordern das Prinzip Repräsentation heraus Die algorithmengesteuerte Aufmerksamkeitsökonomie zementiert Teilöffentlichkeiten, die nicht mehr zum Diskurs über das Gemeinsame zusammenfinden. Im längsten Teil meiner politischen Laufbahn galt noch die Formel Niklas Luhmanns: „Was wir über die Gesellschaft wissen, wissen wir durch Massenmedien.“ Dieser Satz gilt so nicht mehr – jedenfalls nicht ausschließlich. Die klassischen Massenmedien sind nur noch ein Akteur unter vielen. Fast alle sagen jetzt fast alles im Netz. Und wie es scheint – vorzugsweise nebeneinander, aneinander vorbei oder gegeneinander.
Der gemeinsam geteilte Erfahrungs- und Diskursraum schwindet. Wir verlieren die Gewohnheit, uns im kollektiven Gespräch über die wichtigen Fragen zu verständigen. Genau darauf ist die Demokratie aber angewiesen – besonders in der vielfältiger werdenden Gesellschaft. Über das Netz lässt sich ad hoc politisch mobilisieren und kollektives Handeln von vielen Einzelnen organisieren. So unterschiedliche Bewegungen wie Fridays for Future oder die Querdenker verdanken ihre Durchschlagkraft ihrer Online-Vernetzung und ihrer medialen Verstärkung. Die vermittelnden Instanzen, auf denen die repräsentative Demokratie beruht – Parteien, Parlamente, aber auch Gewerkschaften, Kirchen, Vereine – scheinen sie kaum mehr zu brauchen.
Zugleich erhöht die „Partizipation ohne Repräsentation“ den Druck auf die demokratischen Institutionen. Die gestiegenen Partizipationserwartungen kollidieren nicht nur mit den Verfahren der Willensbildung und Entscheidungsfindung in der parlamentarischen Demokratie. Diese „Demokratisierung der Demokratie“ führt fast unweigerlich auch zu Enttäuschungen und gefährdet auf lange Sicht die Legitimation gewählter Abgeordneter, für alle verbindlich zu entscheiden.
Jüngst hat eine Studie aus Köln herausgefunden, wie wenig die repräsentative Demokratie in Deutschland geschätzt wird. Nur 21 Prozent der Befragten vertrauen demnach den gewählten Abgeordneten. Dafür fordern 48 Prozent eine Gesetzgebung über Volksentscheide und 29 Prozent würden politische Entscheidungen von unabhängigen Fachleuten bevorzugen. Die expertokratischen und populistischen Gruppen eint der Wunsch nach Autoritäten, die jenseits eines mühsamen politischen Prozesses einzig gültige, scheinbar objektive und beste Lösungen anbieten. Dieser Befund korrespondiert mit den Ergebnissen einer Umfrage des Center for the Governance of Change aus Spanien.
2019 sagte ein Viertel der Befragten, politische Entscheidungen sollten lieber durch künstliche Intelligenz als von Politikern getroffen werden. Zwei Jahre später befürwortete in der gleichen Umfrage schon die Mehrheit der Europäer, Parlamentarier durch Algorithmen zu ersetzen. Wird bald die Science-Fiction-Geschichte von Isaac Asimov Wirklichkeit, der schon 1955 in den USA die Vision einer elektronischen Demokratie entworfen hat? Der israelische Historiker Yuval Harari diagnostiziert jedenfalls den drohenden Kontrollverlust der Politik, weil sie mit der Beschleunigung technologischer Prozesse nicht Schritt halten könne. Diesen Befund sollten wir sehr ernst nehmen.
Allerdings glaube ich nicht, dass alle digitalen Phantasien Wirklichkeit werden – weder als schöne Vision noch als drohende Gefahr. Es wird genug zu regeln bleiben, was sich nicht errechnen lässt. Denn Repräsentation leistet, was auf keinem anderen Wege ausreichend gut gelingt: nicht nur die Vertretung mobilisierbarer Interessen, sondern der Ausgleich widerstreitender Interessen. Das heißt: Nicht nur fordern, sondern auch gestalten. Nicht nur entscheiden, sondern auch verantworten. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass das repräsentative Prinzip besser funktioniert. Dass Bürgerinnen und Bürger sich besser vertreten fühlen und sich im demokratischen Prozess wiederfinden. Eine Aufgabe, die zuallererst bei den zentralen Repräsentationsinstanzen liegt: bei Parteien und Parlamenten.
Wir brauchen eine Kultur des Zuhörens. Die Bereitschaft, den Blickwinkel des jeweils anderen mitzudenken. Ins Gespräch zu kommen. Nicht von vornherein auszuschließen, dass der Andere Recht haben könnte. Und wir müssen uns viel stärker darum bemühen, den „Anderen“ überhaupt zu erreichen. Vor allem brauchen wir wirkungsvolle Antworten darauf, wie wir gesellschaftliche Gruppen, die sich längst nur noch aus Quellen informieren, die gar kein Interesse am demokratischen Diskurs haben, zurückholen in unsere Öffentlichkeit.
Wir haben diese verhärteten Fronten in der Debatte über die Pandemie erlebt. Wer die Maßnahmen verteidigte oder noch schärfere Beschränkungen forderte, wurde angefeindet – und ebenso derjenige, der die Pandemie-Politik in Zweifel zog. Für eine differenzierte Haltung, für das Anhören der anderen Meinung blieb wenig Raum.
Schon in den 1980er Jahren beobachtete der Philosoph Hermann Lübbe die Neigung, die moralische Integrität des Gegenübers anzuzweifeln, statt seiner Argumentation zu widersprechen. Das ist bequem. Empörung ersetzt aber nicht das politische Argument und die notwendige Auseinandersetzung.
Nicht jeder, der die Pandemiemaßnahmen hinterfragt, ist ein Verschwörungstheoretiker, nicht jeder, der sich wegen der Aufnahme von Flüchtlingen sorgt, ein inhumaner Fremdenfeind und nicht jeder, der die europäischen Klimaziele anzweifelt, ein sogenannter Klimaleugner.
Wir sollten achtgeben, legitime Positionen nicht aus dem Diskurs zu drängen, auch nicht unter Geltendmachung von Moral oder Identitäten – die sich bekanntlich schlecht verhandeln lassen.
So entschieden sich die parlamentarische Demokratie gegen jegliche Angriffe auf ihre Regeln und Verfahren wehren muss, so offen muss sie für gegensätzliche Ansichten bleiben. Sie braucht ein maximales Maß an Duldsamkeit gegenüber anderen Meinungen – solange diese nicht den grundlegenden Werten widersprechen.
Wenn ich für Gleichberechtigung eintrete, kann ich dennoch Vorbehalte gegenüber dem Gendersternchen haben, das Binnen-I ablehnen oder mich für den grammatikalischen Unterschied zwischen dem Leser und dem Lesenden stark machen. Politik lässt sich nicht durch Moral ersetzen – und auch nicht durch Wissenschaft. Fakten allein ergeben noch keine Politik. Abgesehen davon, dass es auch in der Wissenschaft endgültige Wahrheiten nicht gibt und wissenschaftlicher Fortschritt oft in der Falsifizierung bis dato gültiger Auffassungen besteht, darf es in der Politik schon deshalb nicht so leicht endgültige Wahrheiten geben, weil damit die Freiheit zukünftiger Entscheidungen untergraben würde.
Welche Lösung vernünftiger ist als eine andere, ergibt sich nicht allein aus Fakten, sondern eben auch aus Bewertungen – und die unterscheiden sich. Alles andere wäre das Ende des Politischen.
Legitimität erzielt die Demokratie nur durch beides: sachgerechte Lösungen und ihr verfassungsrechtlich gesichertes Verfahren der Mehrheitsentscheidung. Dass wir beispielsweise dem Klimawandel entgegenwirken müssen, lässt sich nicht ernsthaft bezweifeln. Das entlässt uns aber nicht aus der Pflicht, über den besten Weg zu streiten, gegenläufige Interessen auszugleichen und Mehrheiten zu überzeugen. Wer Ziele und Mittel absolut setzt, bringt sie nicht nur gegen das demokratische Prinzip in Stellung, sondern auch gegen die Kompliziertheit sachgerechter Lösungen. Zum Beispiel wenn politische Mehrheiten den vermeintlich besten Weg etwa zur Reduzierung der Umweltbelastung durch den Straßenverkehr festlegen, anstatt für neue technologische Lösungen offenzubleiben.
Sehr geehrte Damen und Herren,
zur freiheitlichen Demokratie gibt es keine bessere Alternative. Jedenfalls keine, die sich mit unseren Werten verträgt. Allerdings gilt sie nicht mehr unhinterfragt als das bessere Modell. Die Demokratie muss sich beweisen – auch im Wettstreit mit autoritären Staats- und Gesellschaftsmodellen, die mit einem Effizienzversprechen für sich werben, ohne auf Freiheit und Menschenrechte, auf rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien Rücksicht zu nehmen. Sollten wir aber selbst zweifeln an der Überlegenheit unserer Demokratie, die das Erbe der westlichen Freiheitsgeschichte ist, dann müssen wir bedenken, dass die meisten Menschen auf unserer Erde, die nicht das Glück haben, in freiheitlicher Demokratie und mit dem Schutz der Würde jedes Menschen zu leben, sich genau danach sehnen. Also tragen wir Verantwortung für unsere Demokratie, nicht nur für uns selbst.
Wenn wir das Prinzip der Repräsentation stärken wollen, dann müssen wir uns auch immer wieder um die Faszination der großen, strittigen Debatte bemühen. Im Parlament als dem Raum, in dem die Vielfalt an Meinungen offen zur Sprache kommt. Kommen sollte. Die parlamentarischen Pultdeckelkonzerte aus der Zeit der österreichischen Monarchie meine ich damit ausdrücklich nicht. Wir sollten den Streit in der Mitte der Gesellschaft suchen – und ihn öffentlich in den Parlamenten austragen. Indem wir deutlich machen, das nie eine Seite allein recht hat. Dass um der Sache willen miteinander gerungen werden muss.
Politik ist kein Selbstzweck, die Abgeordneten dienen nicht dem Eigeninteresse einer gesellschaftlichen Gruppe oder Meinungsblase, sondern der Gemeinschaft. Nochmal: Repräsentation bedeutet nicht Repräsentativität. Am Ende der parlamentarischen Debatten stehen Entscheidungen – durch Mehrheiten, die wechseln können. Ohne Kompromisse geht das nicht. Nicht im Sinne des kleinsten gemeinsamen Nenners oder perfekter Lösungen. Die Demokratie verlangt von den Abgeordneten vielmehr den Blick auf die wirklich großen Aufgaben und die Fähigkeit, das gesellschaftliche Interesse darauf zu lenken und Orientierung zu geben. Das bedeutet auch: Den Menschen etwas zuzumuten. Nicht nur Antworten geben, die gern gehört werden, sondern Lösungen entwickeln und zur Diskussion stellen.
Politik ist immer ein schwieriger Abwägungsprozess, ein Austarieren widerstreitender Interessen. Wir müssen als Parlamentarier stets neu beweisen, die großen Herausforderungen unserer Zeit im Rahmen der Rechtstaatlichkeit, Freiheit und Demokratie bewältigen zu können.
Sehr geehrte Damen und Herren,
„Wenn die Welt einmal untergehen sollte, ziehe ich nach Wien, denn dort passiert alles fünfzig Jahre später.“ Mit diesen Zeilen beschrieb Gustav Mahler einmal sein komplexes Verhältnis zu Wien. Ob seine zeitrelativistische Beobachtung jemals zutraf, vermag ich nicht zu beurteilen. Mir scheint, heute ist eher Berlin der Ort, an dem alles etwas langsam vonstattengeht. Die Gegenwart hat jedenfalls Mahlers Beobachtung revidiert. Dieses herrliche Parlamentsgebäude ist ein Beweis dafür.
Die Sanierung ist – trotz Pandemie – mit einer zeitlich vertretbaren Verschiebung und – wie man hört – im finanziell angestrebten Rahmen erfolgt. Ich gratuliere Österreich und seinem Parlament – auch im Namen unserer Parlamentspräsidentin Bärbel Bas und des ganzen Deutschen Bundestages – zu diesem ehrwürdigen Domizil im neuen Glanz. In diesem repräsentativen Gebäude hat die repräsentative Demokratie ein stolzes Zuhause.
Und ich wünsche dem österreichischen Parlamentarismus viele glanzvolle Debatten unter der neuen gläsernen Kuppel. Im Respekt voreinander und Offenheit füreinander. Und im Bewusstsein der Verantwortung für das Gemeinwohl. Denn wie Karl Popper sagte: „Wir sind jetzt verantwortlich für das, was in der Zukunft geschieht.“
Kommentare