"Wir klassifizieren uns ja nur noch als Virenträger"
Die Corona-Pandemie bringt fast alles, was wir als selbstverständlich annahmen, ins Wanken. Welche Lehren ziehen wir daraus? Was könnte sich zum Guten ändern? Ferdinand von Schirach, Alain de Botton, Lisz Hirn, Markus Gabriel und Reinhard K. Sprenger machen sich Gedanken darüber. Über Sorgen und Ängste, die uns in den Schlaf verfolgen. Über die Hoffnung auf eine bessere Welt. Über die neue Macht der Politik. Über den Wert der Arbeit. Über schlechtes Leben, das wir gut fanden.
„Nie wieder wird ein Politiker sagen können, dass etwas nicht geht“
Welches von zwei Menschenleben ist zu retten, wenn nur eines gerettet werden kann? Der deutsche Jurist und Schriftsteller Ferdinand von Schirach (56) hat sich mit dieser Frage schon in seinem Buch "Terror" beschäftigt, in dem er abwägt, ob eine Passagiermaschine abgeschossen werden darf, wenn es auf ein Stadion mit 70.000 Menschen zufliegt.
Auch sein neues Buch zur Corona-Krise "Trotzdem" handelt davon. Das italienische Modell (Länge der rettbaren Lebenszeit) oder jenes der Schweiz (alle zwei Tage Überprüfung der Erfolgsaussichten) lehnt Schirach ab. Nur Retter (also Ärzte) sollten früher gerettet werden oder eine Impfung bekommen.
Politik kann alles
Für Schirach zeigt die Corona-Krise aber, dass es für die Politik nun keine Ausreden mehr geben kann. „Wenn Gefahr droht, können wir offenbar alles“, so Schirach in Anspielung auf die Lockdown-Maßnahmen. „Nie wieder kann deshalb ein Politiker einer jungen Frau sagen, Klimaschutzmaßnahmen seien nicht zu verwirklichen, weil sie zu teuer sind, zu kompliziert oder die Gesellschaft zu sehr einschränken.“
Schirach hofft nun auf eine mutige europäische Verfassung, bessere Gesundheitssysteme und Katastrophenpläne, weniger Globalisierung und bessere Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte.
Sorgen bereitet ihm der „Shutdown der Grundrechte“, ob der Eingriff verhältnismäßig ist und Teile davon nicht bleiben würden. „Menschen ziehen Sicherheit der Freiheit vor“, so Schirach. Lob findet er für Bundeskanzlerin Angela Merkel. „Man spürt ihr Ringen um das richtige Maß. Ihr Appell an die Freiwilligkeit und ihr Dank an die Bürge ist mir mehr wert als alle einschränkenden Gesetze und Verordnungen.“
„Es gibt mir Hoffnung, dass wir eine bessere Welt bekommen“
„Alles wird gut“ – den Satz sollte man vergessen. In einer Krise wie dieser liege die Lösung im Pessimismus, erklärt der renommierte Philosoph Alain de Botton (50) in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Warum? Weil es dem Menschen helfe, sich mit den schlimmsten Szenarien auseinanderzusetzen, die er sich denken kann. „Sorgen und Ängste sind der verzweifelte Versuch unseres Verstandes, Kontrolle über das Unbekannte, Unkontrollierbare zu erzielen. Wir besitzen aber nicht den Mut, ihnen in die Augen zu schauen.“
Deshalb litten so viele an Schlaflosigkeit, „denn im Schlaf rächt sich unser Verstand für all die Gedanken, die wir tagsüber verdrängt haben“. Aber: „Wir müssen den Zustand erreichen, in dem uns unsere Ängste einfach nur noch langweilen.“ Der Brite rät zu „einer Art fröhlichen Pessimismus, gepaart mit Galgenhumor und Galgenhoffnung“. Denn der Tod sei gewiss.
Echte Freunde
Es sei eine Zeit der Freundschaft, die auf Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Verletzlichkeit basiere. Gefragt seien „Humor, gepaart mit Zuneigung zu unseren Freuden, und die Gewissheit, dass eine Freundschaft nicht nur aus Spaßhaben, sondern auch in traurigen, schwierigen und beängstigenden Zeiten wie jetzt besteht“.
Hoffnungsvoll stimmt den Denker die Kreativität, die sich jetzt zeige, und die Nachdenklichkeit, die er beobachtet: „Immer mehr Menschen fragen: Brauchen wir das wirklich alles? Trägt das zum Glücklichsein bei? Zerstören wir unseren Planeten?“ Es gebe ihm Hoffnung, „dass wir jetzt vielleicht eine bessere Welt bekommen“. Und:„99 Prozent der Menschen auf diesem Planeten sind freundlich und hilfsbereit“ und möchten „eine Gelegenheit bekommen, nett zu sein“.
„Wir brauchen einen breiten Diskurs über Arbeit und ihren Wert“
Es sind drei Kernbereiche, mit denen wir uns aus Sicht der österreichischen Philosophin Lisz Hirn (Podcast-Tipp: „Philosophieren mit Hirn“) auseinandersetzen müssen. Als ersten Punkt zählt die 36-Jährige die Generationengerechtigkeit auf. Aufgrund der Wirtschaftslage appelliert Hirn an die ältere Generation, „jetzt ein Investment in die Zukunft zu leisten und nicht zu sagen: Jetzt seid ihr dran, wir haben unseren Teil schon gemacht“. Jene, die es zu Wohlstand gebracht haben, könnten den Jungen helfen, etwas aufzubauen – als Privatinitiative.
„Schuldig sind sie es ihnen nicht“, betont Hirn, die kritisiert, dass der Lockdown mit dem Schutz von „Oma und Opa“ begründet wurde. „Von dem Narrativ müssen wir weg. Mit steigendem Frust kann das Konflikte zwischen Jung und Alt zuspitzen.“
Frauen-Falle
Ähnlich verhält es sich mit der Geschlechtergerechtigkeit: „Wie wird sie aussehen, wenn zu wenig Arbeitsplätze am Markt sind? Wer bleibt zu Hause? Die Frauen, die mehrheitlich die Mehrbelastung aus Homeoffice und Homeschooling getragen haben?“ In Krisen drohen gerade die ohnehin benachteiligten Frauen zu verlieren. Hirn:„Wir müssen aufpassen, nicht in diese Falle zu gehen."
„Drittens brauchen wir eine breite Diskussion über Arbeit und ihren Wert. Darüber, warum schwere körperliche Arbeit schlechter bezahlt wird als geistige. Darüber, dass viele Arbeiten, die jetzt “systemrelevant“ genannt werden, schlecht bezahlt und mit einem niedrigen sozialen Status verbunden sind und daher von Inländern nicht gern gemacht werden. Welche Anreize, welche technischen Erleichterungen können wir finden?“ Eine schlecht bezahlte „Heldin, die wichtige Arbeit verrichtet, nur zu beklatschen, „das ist jedenfalls billig“.
„Die Normalität, die jetzt zerstört ist, war nicht normal, sondern letal“
Sehnen Sie sich nach der „alten Normalität“ vor Corona? Sie sollten sich gedanklich davon verabschieden, rät Markus Gabriel, deutscher Philosoph mit Professuren in Bonn und an der Sorbonne in Paris. Seiner Ansicht nach könne und werde es keine Rückkehr mehr dazu geben – und das sei gut so. Warum? „Die Normalität, die jetzt endgültig zerstört ist, war in einem bestimmten Sinne nicht normal, sondern letal“, sagt er
Der derzeit sehr begehrte Interview-Partner findet etwa im NDR-Talk harte Worte – wie vom „selbst auferlegten Joch des Burn-out-Kapitalismus“, das uns über Jahrzehnte des „neoliberalen“ Denkens aufgenötigt worden sei. Und: „Wir haben uns sozusagen umprogrammiert und glauben seit ungefähr dreißig Jahren, dass ein in Wirklichkeit schlechtes Leben ein gelungenes Leben ist.“
Gutes, gelungenes Leben
Aus der Sicht des 40-jährigen Deutschen ist die Zeit jetzt reif für die Erkenntnis, dass ein gutes, gelungenes Leben nicht in der Anhäufung von Konsumgütern bestehe. Noch dazu, wenn deren Herstellungsbedingungen dazu führten, „dass vermutlich unsere Enkel oder spätestens Urenkel ersticken werden, weil wir den Planeten zerstört haben“.
Allerdings: So wie das Menschenbild vom egozentrischen Konsumenten falsch gewesen sei, so falsch sei auch das neue vom reinen Virenträger, das Gabriel beobachtet: „Wir klassifizieren uns selbst und andere bewusst und unbewusst nur noch als Virenträger.“ Der Philosoph bewertet dieses Syndrom des „Hygienismus“ – „das muss man so hören wie Rassismus" – als eine neue gefährliche Form der Entfremdung. Die Krise verändert uns demnach mehr, als wir wahrhaben wollen.
„Führungskräfte und Politiker dürfen nicht auf Applaus hoffen“
Gerade in der Krise fordert Bestseller-Autor Reinhard K. Sprenger die Wahrnehmung von Führungsverantwortung ein. „In solchen Situationen, die undurchsichtig, komplex und nicht vorhersehbar sind, müssen Entscheidungen fallen“, so Sprenger im Podcast „Der 8. Tag“ aus Gabor Steingarts mediapioneer-Gruppe. „Was man nicht rechnen kann, muss man entscheiden“, meint Sprenger. Und in der Corona-Krise könne man nicht alles genau berechnen, da die Messungen ungenau und die Daten-Auswahl unvollständig sei. „Sonst bräuchte man keine Politiker und Manager, dann könnte das ein Computer übernehmen.“
Flucht vor Säbelzahntiger
Er zeichnet das Bild einer Gruppe, die vor einem Säbelzahntiger steht und flüchten muss. Die Hälfte sagt, links vorbei; die andere rechts vorbei. Wenn hier keiner das Kommando übernimmt, droht die Paralyse und die Flucht misslingt. „In der Corona-Krise gibt es keine guten Lösungen, sondern nur schlechte“, meint Sprenger. Aber es muss Führungskräfte geben, die die Verantwortung trotzdem übernehmen, obwohl sie sich von vornherein schuldig machen, jedenfalls das Falsche zu tun. Und gegen jede Entscheidung sei mit Widerstand zu rechnen. „Man darf nicht auf Applaus hoffen, denn statistisch sind jedenfalls 50 Prozent dagegen. Und deshalb entscheiden viele lieber gar nicht.“ Es würde aber Politikern gut anstehen, einmal zu sagen: „Wir wissen es einfach nicht.“
Kritik übt Sprenger an der Macht, die Beratern zugeteilt wurde. „Zunächst waren es die Virologen, dann die Ethiker, aber wir brauchen eine demokratisch legitimierte Führung, die das Ganze sieht und die verschiedensten Expertisen ausbalanciert.“
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