"Der moralische Zeigefinger bringt einen nicht weiter"
KURIER: Die österreichischen Grünen feiern ihren 30er, die deutschen bald den 40er. Beide regieren mit und sind mittlerweile Teil des Systems, gegen das die Rechtspopulisten antreten. Ist das das Schicksal einer älter werdenden Partei? Oder haben die Grünen etwas falsch gemacht, dass sie nicht mehr als Avantgarde-Partei gelten?
Winfried Kretschmann: In einer Demokratie hat jeder seine Chance. Wir haben sie damals ergriffen und frischen Wind reingebracht. Im Unterschied zu den Rechtspopulisten hatten wir aber eine neue Idee: Ökologie als Politik. Die Rechtspopulisten kommen dagegen mit der alten Idee des Nationalstaats. Das sind auch Regressionserscheinungen – Wolfgang Schäuble nannte das "Rendezvous mit der Globalisierung": Die Globalisierung hat eine andere Seite – die Migration. Afrika, der vergessene Kontinent, der Nahe Osten, wo sich Fundamentalismus in Terrorismus wandelt, Phänomene wie der IS – das sind Begleiterscheinungen der Globalisierung, die man nicht voraussehen kann. Da kann man nicht einfach sagen, es haben alle versagt.
Haben die Grünen auch Fehler gemacht, die den Aufstieg der Rechtspopulisten begünstigt haben? Sie selbst haben Ihrer Partei ja geraten, mit dem Moralisieren Schluss zu machen.
Alles hat seine Zeit – auch das Besserwissen. Ohne Besserwissen gäb’s uns nicht. Wir haben eine neue Frage auf die Agenda gesetzt, von der die anderen nichts wissen wollten: den Erhalt der Lebensgrundlagen. Aber irgendwann bringt einen der moralische Zeigefinger nicht mehr weiter, und man braucht eine pragmatische Sicht. Das ist das Fatale in der Politik: Man ist geneigt, das, was erfolgreich war, fortzusetzen, auch wenn sich die Welt geändert hat. Aber wenn man weiter rummoralisiert, schlägt es auf einmal um und richtet sich gegen einen. Die Menschen reagieren empfindlich, wenn man ihnen Vorschriften in der persönlichen Lebensführung macht. Wenn man regiert – in Deutschland sind wir Grünen in elf, in Österreich in sechs Landesregierungen – merkt man das.
Es schlimm genug, dass in Baden-Württemberg, wo wir die besten Wirtschaftsdaten haben, wo praktisch Vollbeschäftigung herrscht, die AfD auf einen Schlag 15 Prozent holen kann. Diese 15 Prozent haben nicht eine einzige Ursache, sie speisen sich aus unterschiedlichen Quellen. Selbst die, denen es gut geht, haben offensichtlich Ängste – die Angst vor dem Islam etwa reicht tief bis ins Bürgertum. Damit muss man sich auseinandersetzen. Wichtig ist dabei immer die Frage: Ist es nicht nur der Sache nach richtig, was ich mache, sondern schafft es auch Vertrauen? Das ist ein Grund unseres Erfolges. Wir haben in Baden-Württemberg 100.000 Nichtwähler mobilisiert – Leute, die sich von der Politik abgewendet hatten.
In Österreich und Deutschland gibt es Stimmen, die rechtem Populismus mit linken Populismus begegnen wollen. Was halten Sie davon?
Man bekämpft Radikalismus nicht mit Gegenradikalismus, sondern mit Maß und Mitte. Einerseits soll man die Political Correctness nicht übertreiben, andererseits muss man einer Verrohung der Sprache entgegenwirken. Mit Klarheit und Respekt, zivilisierter Streit hält eine Demokratie zusammen. Verbalradikalismus treibt sie auseinander. Die Kräfte der Mitte sind für mich da, wo die Aktivbürger sind: Wir haben zwar eine ansteigende Fremdenfeindlichkeit, aber auch eine neue Hilfsbereitschaft. Es ist in dieser Flüchtlingskrise auch eine neue Bürgerbewegung entstanden.
Sehen sich die Grünen als Kraft der Mitte, als Volkspartei?
Ja. Wir müssen uns genau um diese Aktivbürger herum gruppieren. Man kann die Gesellschaft nicht von den Rändern her befrieden. Wir haben in der Weimarer Republik erlebt, dass sich die Extreme aufschaukeln und sich nicht neutralisieren.
Als Österreicher schaut man erstaunt nach Baden-Württemberg, das Zentrum der Autoindustrie hat seit fünf Jahren einen Grünen als Regierungschef. Wie überlebt man da politisch?
Als designierter Ministerpräsident habe ich vor einigen Jahren gesagt: Weniger Autos sind besser als mehr. Das hat eine lange Debatte ausgelöst, der Chef eines großen Automobilunternehmens stand sofort auf der Matte. Ich hab ihm gesagt, dass wir uns von unseren ökologischen Zielen nicht abbringen lassen – daraufhin erzählte er, von seiner Vision: "Zero Emission". Mit der Elektromobilität haben wir da jetzt eine disruptive Entwicklung. Ich bin kürzlich mit einem Elektro-Porsche gefahren und dachte: Kretschmann, jetzt hast du was erreicht, wenn schon die Sportwagen grün sind. Auf der anderen Seite kommt uns die junge Generation entgegen, die intelligente Mobilität will, aber nicht einfach nur ein Auto als Statussymbol.
Was sagen Sie zu den Abgas-Schummeleien der deutschen Autoindustrie?
Das ist skandalös. Und wie man sieht, kann das selbst einen großen Konzern ins Wanken bringen. Aber die Lektion haben alle gelernt, schon aus Eigeninteresse werden sie so etwas nie wieder machen.
Das glaube ich nicht. Er ist ja der Kandidat, der nicht polarisiert, sein Programm ist es, Menschen zusammenzuführen. Er ist jemand der verbindet. Bei uns ist die Debatte um die Gauck-Nachfolge ähnlich: Es muss jemand an der Spitze stehen, der einen Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft leistet.
Könnte es sein, dass Sie und Van der Bellen Kollegen werden? Es gibt ja Gerüchte, dass Angela Merkel Sie gern als Bundespräsidenten hätte.
Ich strebe das Amt des Bundespräsidenten nicht an.
Aber Sie könnten es sich vorstellen?
Ich bin gerne Ministerpräsident. Wir stellen nur 150 Delegierte in der Bundesversammlung, also wir sind nicht die Spielmacher. Insofern halte ich das für spekulativ. Aber generell ist es gut, wenn Ministerpräsidenten, also Landespolitiker, als bundespräsidiabel gelten, da muss man sich nicht genieren.
Sie sind der beliebteste Grüne Deutschlands. Lange Zeit war das Joschka Fischer – was unterscheidet Sie von ihm?
Uns verbindet mehr, als uns unterscheidet. Aber jeder von uns hat seinen eigenen Politikstil. Joschka Fischer war Außenminister, sein Ding ist die Welt, ich bin gerne ein Provinzpolitiker. Deshalb hat es mich nicht nach Berlin gezogen.
Wann werden die Grünen dort wieder mitregieren?
Ich hoffe, nach der nächsten Wahl.
In einem Kabinett Merkel-Kretschmann?
Ich habe nicht vor, in die Bundespolitik zu wechseln. Man sollte auch keine Prognosen über eine Koalition machen, die vielleicht arithmetisch gar nicht reicht – bei den letzten Landtagswahlen kamen überall Koalitionen raus, die es vorher noch nicht gab. Ich bin nur Ministerpräsident, kein Prophet.
Sind die Grünen überall hin offen – auch für Rot-Rot-Grün?
Wir Grünen gehen selbstbewusst und eigenständig in den Wahlkampf. Mit der Linken ist es auf der einen Seite so, dass bei den Positionen, die die Linke z. B. in der Außenpolitik vertritt, ich mir eine Koalition ganz schwer vorstellen kann. Da müssten sie sich richtig bewegen. Andererseits habe ich den Linken Ministerpräsidenten Ramelow als Kollegen, und wir arbeiten gut zusammen. Das ist immer eine Frage des Sondierens – man muss das Land voranbringen können, nicht nur verwalten. Wir schauen da ja auch immer nach Österreich. Koalitionen, die alles auf den kleinsten gemeinsamen Nenner runterverhandeln, bringen wenig voran. Eine Streitkoalition sollte man in Berlin auf keinen Fall machen.
Sie denken dabei offenbar an so eine Streitkoalition wie in Österreich?
Das steht mit jetzt nicht zu, darüber zu urteilen, ich bin ja nur Gast (lacht).
Zur Person: Winfried Kretschmann, Deutschlands erster Grüner Regierungschef
Seit 2011 ist der 68-Jährige Grüne Winfried Kretschmann Ministerpräsident das einstigen schwarzen deutschen Kernlands Baden-Württemberg. Sein Erfolg gründet auf seinem Wandel: Er war in seiner Jugend Kommunist, heute ist er im Schützenverein und engagierter Katholik, Der "Realo" ist nicht nur der bürgerlichste Grüne, sondern auch der beliebteste Deutschlands. Der KURIER traf den Gymnasiallehrer mit markantem Haarschnitt am Rande des 30-jährigen Jubiläums der österreichischen Grünen in Wien – er war dort Festredner.
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