„Die Bilder, die uns seit gestern erreichten, zeigen ein verstörendes Sittenbild, das unserem Land, unserem Österreich nicht gerecht wird. Es sind beschämende Bilder. Und niemand soll sich für Österreich schämen müssen. Ich möchte das in aller Deutlichkeit sagen: So sind wir nicht! So ist Österreich einfach nicht!“
Mit dieser Erklärung wandte sich Bundespräsident Alexander Van der Bellen am 18. Mai 2019 an die Bevölkerung. Es war der Tag nach Veröffentlichung jenes Videos, das die Bestechlichkeit und die Machtarroganz der FPÖ-Führung sichtbar gemacht hatte.
Für diese politisch außergewöhnliche und verstörende Situation fand das Staatsoberhaupt die richtigen Worte. Und Van der Bellen sollte derer noch einige hinzufügen in den stürmischen Tagen des Mai 2019. Er entschuldigte sich „für das Bild, das die Politik hinterlassen hat“ und wandte sich direkt an die Bevölkerung: „Ich bitte Sie, wenden Sie sich nicht angewidert von der Politik ab.“
"Wir kriegen das schon hin"
Als kurz darauf eine Regierungsbildung die nächste jagte, traf Van der Bellen erneut den richtigen Ton. Diesmal beruhigte er. Er schwärmte von der „Eleganz und Schönheit der österreichischen Verfassung“, in der jeder Schritt, der zu setzen sei, bereits vorgezeichnet ist.
Er benutzte eine einfache, vertrauenerweckende Redewendung aus der Umgangssprache: „Wir kriegen das schon hin.“ In einer der größten politischen Krisen der Zweiten Republik wuchs der Bundespräsident über sich hinaus. Der politisch nicht besonders erfahrene Alexander Van der Bellen – er hatte nie ein Regierungsamt inne – erwies sich als krisenfest. Und das war durchaus nicht selbstverständlich.
Der Start des ersten grünen Präsidenten der Republik war nicht gerade fulminant verlaufen. Wegen der Wahlanfechtung durch die FPÖ musste Van der Bellen drei Wahlgänge durchhalten, bis er am 26. Jänner 2017 überhaupt erst in die Hofburg einziehen konnte. Die Amtszeit seines Vorgängers Heinz Fischer war im Juli 2016 zu Ende gegangen, die Hofburg ein halbes Jahr verwaist geblieben.
Heinz Fischer hatte Van der Bellen mit fast unerreichbaren Vertrauenswerten große Fußstapfen hinterlassen. In seinen ersten beiden Amtsjahren kam Van der Bellen denn auch kaum vom Fleck. Mit einem Vertrauenssaldo zwischen plus 10 und 20 Prozent blieb er hinter den besseren Ministern und weit abgeschlagen hinter Heinz Fischers 60 Prozent zurück.
Der Mai 2019 wendete das Blatt. „Erst in der Krise konnte Van der Bellen frühere Gegner, Menschen, die ihn nicht gewählt hatten, von sich überzeugen und jene Überparteilichkeit erlangen, die dem Amt des Bundespräsidenten Gewicht verleiht“, befindet Wolfgang Bachmayer. Sein OGM-Institut erhebt seit Jahrzehnten den Vertrauensindex der österreichischen Spitzenpolitiker.
"Ein guter Wert"
Zwischen dem letzten Messpunkt vor der Ibiza-Krise, dem April 2019, und dem ersten nach Angelobung der Beamtenregierung, dem Juni 2019, schnellten Van der Bellens Vertrauenswerte um 21 Punkte auf 39 Prozent in die Höhe. Bachmayer: „Das ist ein sehr guter Wert, denn man muss beachten, dass es sich um einen Saldo handelt.“ Übersetzt: Diejenigen, die Van der Bellen „nicht vertrauen“, sind bereits abgezogen. Bei hundert Antworten müssen ihm also 70 das Vertrauen aussprechen, damit nach Abzug der 30 Misstrauischen 40 Prozent im Saldo übrig bleiben.
Ein Blick hinter die Kulissen zeigt, dass der Eindruck, den Van der Bellen bei der Bevölkerung hinterließ, besser ist, als das Krisenmanagement der Hofburg tatsächlich war.
In Wirklichkeit ist Van der Bellen mit zwei seiner Vorhaben an der Mehrheit des Nationalrats gescheitert: mit einem möglichst raschen Wahltermin sowie mit der Installierung einer ÖVP/Expertenregierung.
Van der Bellen hatte verabsäumt auszuloten, ob oder unter welchen Bedingungen eine ÖVP/Expertenregierung vom Nationalrat geduldet würde. Er hätte auch dem damaligen Kanzler Sebastian Kurz auftragen können, dieses Vertrauen bei einer Parlamentsmehrheit herzustellen.
Dass dieser Auftrag unterblieb, und Van der Bellen das neue Kurz-Kabinett, das nach dem Auszug der Blauen nötig geworden war, einfach durchwinkte, führte zu einem schweren Zerwürfnis zwischen dem Staatsoberhaupt und der SPÖ. „Er hat sich von Kurz einlullen lassen“, werfen ihm Sozialdemokraten vor.
Die heikle Phase
Auch dass sich Van der Bellen in dieser heiklen Phase ständig mit Kurz an seiner Seite im Fernsehen zeigte, erboste die SPÖ. Ein roter Präside: „Damit machte Van der Bellen Kurz zum Krisenmanager, obwohl Kurz durch seine Koalition mit der FPÖ die Krise verursacht hat.“
Die SPÖ empfand in der Folge wenig Hemmung, die vom Bundespräsidenten eben erst angelobte ÖVP/Expertenregierung sofort wieder nach Hause zu schicken. Ebenso ignorierte sie Van der Bellens Wunsch nach einem möglichst frühen Wahltermin. Demonstrativ tuschelte SPÖ-Geschäftsführer Thomas Drozda im Nationalrat mit dem kurz zuvor von Van der Bellen gefeuerten Herbert Kickl. Genüsslich tat Drozda kund, bei dieser Gelegenheit einen Wahltermin nach rot-blauem Wunsch fixiert zu haben.
Die Bitterkeit der Roten über den von ihnen einst unterstützten Präsidentschaftskandidaten Van der Bellen dürfte nachhaltig sein. So mancher führende Sozialdemokrat droht hinter vorgehaltener Hand, sollte Van der Bellen für eine zweite Amtszeit kandidieren, würde ihn die SPÖ nicht mehr unterstützen. Aber bis dahin – ins Jahr 2022 – fließt wohl noch einiges Wasser die Donau hinunter.
Zerwürfnis mit SPÖ
Im Umfeld des Bundespräsidenten wird Parteilichkeit zulasten der Sozialdemokraten entschieden zurückgewiesen. Der Tenor lautet: Die SPÖ solle ihre Unfähigkeit, aus der Ibiza-Affäre und dem Zerbrechen der türkis-blauen Regierung politisches Kapital zu schlagen, nicht der Hofburg anlasten. Die SPÖ habe „das Historische an dem Moment nicht erfasst“.
Statt richtige Worte zu finden, habe sie „mit der FPÖ ein paar Parlamentsanträge verfasst“ und sich diebisch gefreut, dass sie der ÖVP im Plenum ein paar Abstimmungsniederlagen beifügen könne. „Die SPÖ ist ihren Funktionärsemotionen erlegen und hat Herbert Kickl zu ihrem Rachegott erkoren“, befindet ein Beobachter.
Van der Bellens Hingabe
Ganz ohne Grundlage ist der Argwohn der SPÖ, Van der Bellen lasse sich von Kurz um den Finger wickeln, dennoch nicht. Der 75-jährige Herr in der Hofburg hat generell eine Schwäche für die Jugend, sie rührt auch aus seiner Zeit als Universitätsprofessor im Hörsaal mit den Studenten.
Van der Bellens Hingabe an die nachfolgende Generation wird auch dem jungen, früheren Bundeskanzler zuteil. „Van der Bellen hat gegenüber Kurz einen Vaterkomplex“, meint ein Intimkenner der Hofburg kritisch. Ein anderer schildert die Beziehung freundlicher: „Van der Bellen gibt gern seine Lebenserfahrung weiter. Und Kurz, der unter den älteren Politikern seiner Partei keinen engen Vertrauten hat, hört ihm gerne zu.“
Van der Bellens Verhältnis zu den Blauen birgt wenige Geheimnisse. Inhaltlich trennt sie Welten. Die einigermaßen funktionierende Gesprächsebene während der türkisblauen Regierungszeit ist dahin. Der blaue Kickl findet nun sogar den roten Fischer besser: „So ein Wahnsinn, eine Regierung ohne Parlamentsmehrheit zu bilden, wäre Heinz Fischer nicht passiert.“
Gegenüber seiner Ex-Partei, den Grünen, ist Van der Bellen um Distanz bemüht. Zumindest nach außen hin. Hofburg-Kenner beschreiben sein Verhältnis zu Werner Kogler jedoch als „ausgezeichnet“. Zu Hilfe kommt dem Bundespräsidenten, dass der Klimawandel von der Bevölkerung inzwischen als drängendstes Problem unserer Zeit empfunden wird.
Wenn sich Van der Bellen gegen die Erderwärmung einsetzt, wird das folglich nicht als parteipolitisches Engagement, sondern als im allgemeinen Interesse empfunden. „Außerdem ist es authentisch. Es weiß ja jeder, dass er ein Grüner ist“, sagt Bachmayer.
Unerwarteter Trumpf
Die Abwahl der ÖVP/Expertenregierung durch den Nationalrat spielte Van der Bellen einen unerwarteten Trumpf in die Hand: Er bekam die Gelegenheit, ein von allen Parteien akzeptiertes Beamtenkabinett einzusetzen. Mit der ersten Frau im Kanzleramt hat VdB zudem eine fortschrittliche Markierung gesetzt, Brigitte Bierlein zog in den Vertrauenswerten auf Anhieb mit ihm gleich. Das nimmt aus der Regierungsbildung nach der Nationalratswahl den Zeitdruck heraus, Van der Bellen kann sowohl auf die Inhalte als auch auf die Ministerliste mehr Einfluss nehmen, so er das will.
Dass der Bundespräsident darüber hinaus auch auf die Farbkombination einer Koalition einwirkt, davor schreckt die Hofburg seit Klestils Zeiten zurück. Klestil hatte im Machtkampf gegen den damaligen Kanzler Wolfgang Schüssel eine schwere Niederlage erlitten. Klestil wollte Rot-Schwarz erzwingen, Schüssel zog jedoch Schwarz-Blau ohne Segen der Hofburg durch. Zumindest offiziell lehnt sich seither kein Bundespräsident mehr mit Wunschkoalitionen aus dem offenen Fenster.
Trotz der öffentlichen Zurückhaltung kann man davon ausgehen, dass Van der Bellen wenig Interesse daran hat, nach seinen Erfahrungen mit der FPÖ ein zweites Mal blaue Minister anzugeloben. Herbert Kickl, den Liebling der blauen Basis, von Ministerwürden auszuschließen, ist eine Sollbruchstelle für die Neuauflage von Türkis-Blau.
Van der Bellen selbst stand im Jahr 2003 als Chefverhandler der Grünen an der Schwelle zum Eintritt in eine Bundesregierung. Er verhandelte damals mit Wolfgang Schüssel. Warum der Versuch scheiterte, darüber gehen die Erzählungen auseinander. Die einen meinen, Schüssel hätte sowieso nur Scheinverhandlungen geführt, um dann mit den Blauen abzuschließen. Andere sagen, Van der Bellen hätte Schwarz-Grün bei den Wiener Grünen niemals durchgebracht.
Eine gesicherte Überlieferung ist, dass Van der Bellen noch jahrelang trauerte, dass damals aus Schwarz-Grün nichts geworden war. Er hat dies stets als versäumte Gelegenheit in seinem Leben betrachtet.
Gut möglich, dass der 75-Jährige jetzt unverhofft eine zweite Chance sieht, das Versäumte nachzuholen.
Zur Inszenierungsstrategie der Hofburg würde Schwarz-Grün jedenfalls passen. Fragt man nach den grundsätzlichen Zielen des Staatsoberhaupts, bekommt man folgende Antwort: Ganz wichtig sei Europa. Sehr, sehr wichtig sei der Kampf gegen die Erderwärmung plus eine entsprechende Umstellung der Wirtschaft. Und besonders wichtig sei, welches Bild die Politik in den kommenden Jahren für die jungen Leute abgibt.
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