Was wir über die Causa Martin Sellner (nicht) wissen

Was wir über die Causa Martin Sellner (nicht) wissen
Wie intensiv war der Kontakt mit dem Christchurch-Terrorist? Was war bei der Hausdurchsuchung? Was hat die FPÖ damit zu tun? Eine Zusammenfassung.

Wie intensiv war der Kontakt?

Der 5. Jänner 2018 ist ein guter Tag für Martin Sellner, dem Chef der rechtsextremen „Identitären Bewegung“. Jemand, der laut profil die E-Mail-Adresse b.tarrant333@gmail.com verwendet, hat ihm 1.500 Euro mittels dem Online-Bezahldienst Stripe überwiesen.

„Danke dir Brenton“, schreibt Sellner laut ZiB2 am 6. Jänner 2018, „ich möchte dir persönlich für deine unglaubliche Spende danken. Das ist meine persönliche Email-Adresse. Du kannst mich unter dieser Adresse erreichen, wenn du möchtest.“

„Es ist eine kleine Summe im Vergleich zu der vielen Arbeit, die du leistest“, antwortet wahrscheinlich – die Staatsanwaltschaft geht davon aus – jener Brenton Tarrant, der am 15. März 2019 zwei Moscheen in Neuseeland betreten und 50 Menschen erschießen wird, „Es wird ein langer Weg zum Sieg sein, aber unsere Tage werden jeden Tag stärker.“

„Wenn du jemals nach Wien kommst, müssen wir auf einen Kaffee oder ein Bier gehen“, schreibt Sellner ein paar Tage später. „Das Gleiche gilt für dich wenn du jemals nach Australien oder Neuseeland kommst. Wir haben Menschen in beiden Ländern, die dich gern in ihrem Haus aufnehmen würden.“ Ob es darüber hinaus weiteren Kontakt zwischen den beiden gaben, ist nicht bekannt.

Was wir über die Causa Martin Sellner (nicht) wissen

Kam es zu einem Treffen?

Der 28-jährige Tarrant ist im Herbst und Winter 2018 „mittelalterlichen Kriegsherren nachgereist, die er für Retter des Abendlands hielt“, schreibt t-online.de, das seine Reise anhand seines Facebook-Profils rekonstruiert hat. Demnach flog der Australier am 9. November 2018 von Dubai (er war zuvor in Pakistan) nach Sofia, Bulgarien.

Danach, am 15. November, fliegt er nach Bukarest, Rumänien. Er reist „auf den Spuren der Kreuzritter“, fasst t-online.de zusammen, „er hat sich intensiv mit Türkenkriegen sowie mit Feldherren und Fürsten befasst, die gegen die Osmanen gekämpft haben.“ Oder: Er holt sich ideologische Inspiration für seinen Hass auf Muslime.

In Österreich verbringt Tarrant sieben Tage -- vom 27. November bis 4. Dezember 2018, wie Innenminister Herbert Kickl im März 2019 bekannt gab. Außerdem soll er sich Wien ein Auto gemietet haben, mit dem er 2.000 Kilometer zurücklegte. Reserviert hat er das Auto „einen Tag nach dem letzten E-Mail Kontakt zwischen Sellner, Tarrant ‚und anderen‘, berichtet Der Standard. Der KURIER hat anhand des archivierten Facebook-Profils versucht, die Reise nachzuzeichnen.

Was wir über die Causa Martin Sellner (nicht) wissen

Sofern die Chronologie der geposteten Fotos stimmt, reiste Tarrant von Wien ins -- im Mittelalter bedeutende -- Friesach in Kärnten, zum Kimmler Wasserfall in Tirol, zum Schloss Neuschwanstein in Bayern, zum Salzburger Christkindlmarkt, dem oberösterreichischen Steyr. Im nahen Sankt Peter in der Au stellt Steyr Mannlicher Schusswaffen her. Von Steyr ging es zurück nach Wien. Dort besucht er das Heeresgeschichtliche Museum, das eine Abteilung den Türkenkriegen widmet. Er postet auch ein Foto vom Stephansplatz, es regnet.

Thomas Wostal, Pressesprecher der Wetterstation ZAMG, hat das Foto für den KURIER gesichtet und erklärt, dass es im relevanten Zeitraum nur am 3. Und 4. Dezember in der Wiener Innenstadt geregnet habe. Die Daten seien zuverlässig, sie stammen von der nahen Wetterstation Operngasse in der Wiener Innenstadt.

Sellner, der ein Treffen schon mehrmals dementiert und sich vom Terrorismus distanziert hat, dürfte am 3. Und 4. Dezember in Wien gewesen sein – zumindest hat er an diesen Tagen Youtube-Videos aus seiner Wiener Wohnung hochgeladen. Das heißt noch lange nicht, dass die ein Jahr zuvor ausgesprochene, unkonkrete Einladung „auf einen Kaffee oder ein Bier“ zu gehen Wirklichkeit wurde.

Was ist bei der Hausdurchsuchung passiert?

Am 15. März 2019 tötet Tarrant 50 Menschen und verletzt 50 weitere schwer. Sein 74-seitiges Hass-Manifest trägt den Titel „Der große Austausch“, eine Verschwörungstheorie, die den Kern der „identitären“ Ideologie bildet.

10 Tage vergehen, bis die Staatsanwaltschaft Graz, die in mehreren Fällen gegen Mitglieder der „Identitären Bewegung“ ermittelt, eins und eins zusammenzählt. Am 25.3.2019 werden Beamte des Verfassungsschutzes (BVT) an die Privatadresse von Sellner nach Wien-Währing bestellt. Um 13 Uhr soll seine Wohnung durchsucht werden.

41 Munten davor, um 12:19 Uhr, fertigt Sellner Screenshots vom Mail-Verkehr mit Tarrant an – und löscht dann die Mails, wie der KURIER auf Berufung auf den „siebten Anlassbericht des BVTs an die Staatsanwaltschaft“ berichtet.

Um 13 Uhr klingeln die Beamten bei Sellner – und warten zwölf Minuten, bis Sellner die Tür öffnet, wie Kleine und Standard herausgefunden haben. Obwohl "vermeintliche Geräusche aus dem Wohnungsinneren vernommen werden" konnten, ergriffen die Polizisten keine Maßnahmen, um in die Wohnung einzudringen. Ein mit Polizeivorgängen vertrauter Experte bezeichnet -- gegenüber dem Standard -- diese Wartezeit als ein Vorgehen, das "gegen jegliche taktische Gebote" verstößt.

Bei der Hausdurchsuchung soll laut Standard ein vergrabenes Zweithandy im Blumentopf gefunden worden sein. Für die Oppositionsparteien ist das das letzte Indiz, um ein Leck innerhalb des Innenministeriums zu vermuten. Ob das Innenministerium von einer Vorwarnung ausgeht oder Untersuchungen dahingehend anstellt, wollten weder die Sprecher von Innenministerium und Staatsanwaltschaft gegenüber dem KURIER kommentieren.

Was hat die FPÖ damit zu tun?

Einen Tag nach der Hausdurchsuchung schaltet sich Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) ein, der volle Aufklärung in diesem Fall fordert. Als Kurz auf die vielen persönlichen, inhaltlichen und strukturellen und lang bekannten Verbindungen zwischen FPÖ und „Identitäre“ aufmerksam gemacht wird, kommt es zur ersten richtigen öffentlichen Auseinandersetzung innerhalb der ÖVP-FPÖ-Koalition. FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache geht am 2. April 2019 auf die von Kurz geforderte Distanz zu den „Identitären“ -- und verwendet deren „Bevölkerungsaustausch“-Begriff am 28. April 2019.

Inwieweit die FPÖ und deren Ministerien mit den Rechtsextremen verbandelt sind, ist Gegenstand einer noch nicht beantworteten parlamentarischen Anfrage der NEOS. Brisant dürfte in diesem Zusammenhang aber eine Recherche der Washington Post werden.

Zur Erinnerung: Die Razzia im BVT im Februar 2018 wurde von Polizei-Oberst und FPÖ-Kommunalpolitiker Wolfgang Preiszler geleitet. Dabei seien „hochqualifizierte Dokumente“ über die direkten und indirekten Verbindungen zwischen Sellner und der FPÖ mitgenommen worden sein, schreibt die Washington Post, die sich auf zwei europäische Sicherheitsbeamte beruft.

Was wir nicht wissen

Wir wissen nicht, ob oder wie die Nähe der FPÖ zu den „Identitären“ die Arbeit des FPÖ-Innenministers oder der Polizeibeamten beeinflusst.

Wir wissen nicht, ob das Innenministerium oder die Staatsanwaltschaft von einem Maulwurf ausgeht und dahingehend ermittelt.

Wir wissen auch nicht, ob Sellner vorgewarnt wurde oder einfach sehr schlau und –was den Zeitraum betrifft – sehr glücklich ist. Zwischen dem Attentat und der Hausdurchsuchung vergingen immerhin 10 Tage, in denen das Hass-Manifest, das inhaltlich nah an der „identitären“ Ideologie ist, diskutiert wurde. Vielleicht hat Sellner einfach schneller als die Staatsanwaltschaft eins und eins zusammengezählt.

Eine Sache wissen wir noch: Die Darstellung von Sellner (er behauptete, er wollte die Mails an die Behörden weiterleiten, aber dann klingelten bereits Beamten an seiner Tür) ist falsch.

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