Warum AKP-Fan mit "Ja, aber..." für Erdogan stimmen würde

Sinan Ertugrul isst und diskutiert im Cafe Afro.
In seinem Stammlokal in der Wiener Türkenstraße trifft Erdoğan-Unterstützer Sinan Ertugrul nicht nur Gleichgesinnte.

Obwohl er Politikwissenschaft und Philosophie studiert hat, arbeitet Sinan Ertugrul (40) die Hälfte des Jahres als Taxifahrer. Das ist aber auch schon das einzige Klischee, das der Österreicher mit türkischen Wurzeln zu erfüllen scheint. Den Job machte er allerdings bloß, um genug Zeit für die Arbeit an seinem Film zu haben. Die Doku „Islamophobie Österreichischer Prägung“ lief zuletzt in Wiener Kinos und befindet sich gerade auf Bundesländertour.

Dürfte er in der Türkei noch wählen, so würde er beim Referendum am 16. April mit „Ja, aber ...“ – also mit Vorbehalt – für Erdoğans Präsidialsystem stimmen, sagt Ertugrul. Dabei sitzt er mit einer Tasse Tee in der Wiener Türkenstraße 3.

Außer der Adresse hat sein Stammlokal – das Café Afro – aber kaum Bezug zu seiner einstigen Heimat. Islamische Schriftzeichen oder Erdoğan-TV in der Endlosschleife sucht man hier vergeblich: Die hellen Wände zieren Fotos des kürzlich verstorbenen Musikers Alp Bora und im Schanigarten werden sowohl Ayran als auch Bier serviert. Nur etwa ein Drittel der Gäste sind Türken.

Genau deshalb gehe er so gern ins Afro bzw. in die angrenzende Moschee, sagt Ertugrul: wegen der kulturellen und politischen Vielfalt. „Ich habe hier noch nie jemanden laut reden, geschweige denn streiten gehört. Alle Meinungen sind erlaubt.“

„Dämonisierung“

Gegenüber dem KURIER will trotzdem keiner der Gäste Stellung beziehen. „Das liegt daran, dass die türkische Community eine schlechte mediale Darstellung erfährt. Erdoğan und jeder, der nicht strikt gegen ihn ist, wird dämonisiert“, so Ertugrul. Erst als der KURIER-Fotograf gegangen ist, erklären sich einzelne Lokalgäste zu Gesprächen bereit. Aber nur anonym.

Wie etwa Studentin Rumeysa (23). Die junge Kopftuchträgerin ist zwar Österreicherin und nicht wahlberechtigt – sie würde aber mit „Nein“ abstimmen. „Ich bin zwar für Erdoğan, aber gegen das Präsidialsystem. Das wäre eine zu hohe Machtkonzentration für eine Person – und was ist nach Erdoğan?!“

Ein guter Freund von Ertugrul ist dagegen stimmberechtigt und hat bereits „Hayir“ – also Nein – angekreuzt. „Weil Erdoğan nur Politik für AKP-Anhänger macht, Opposition, Kurden, Aleviten, Roma, Atheisten, Homosexuelle und Säkulare aber ignoriert.“ „Er arbeitet nur für seine Familie und seine Anhänger, er möchte allein regieren. Seine Ideen sind nicht islamisch, sondern nationalistisch“, meint Hanefi K. Um AKP-Anhängern keine Angriffsfläche zu bieten, möchte auch er unerkannt bleiben.

„Lage ist vergiftet“

Dass Erdoğan-Kritiker bespitzelt werden, bestreitet Ertugrul nicht. Denunziation sei zwar „kein türkisches, sondern ein menschliches Problem“. Aufrufe, Anhänger der Gülen-Bewegung den türkischen Sicherheitsbehörden zu melden, seien aber „schwachsinnig“ und abzulehnen.

Dass in der Türkei zurzeit Erdoğan-Gegner entlassen, ihrer Ämter enthoben oder verhaftet werden, sei als direkte Konsequenz des Putschversuchs zu verstehen. „Nach diesem blutigen, traumatisierenden Ereignis handelt die Regierung irrational, die allgemeine Lage ist vergiftet“ – insbesondere Medien seien jedoch auch vor dem Putsch und vor der AKP nicht frei gewesen. „Bis zum Referendum wird das so weitergehen, erst danach erwarte ich mir eine gewisse Normalisierung.“

Ertugrul fürchtet jedenfalls nicht, dass die Türkei zur Diktatur werden könnte – „das würde die Bevölkerung, die sich beim Putschversuch mit Fäusten gegen Panzer gestellt hat, niemals zulassen“. Erdoğan habe bei Wahlen stets dazugewonnen, weil er sozialdemokratische Politik mache, Infrastruktur schaffe und die Wirtschaft ankurble.

Im Gegensatz zur seit dem Militärputsch von 1980 geltenden Verfassung, könne der Präsident im neuen System vom Parlament zur Rechenschaft gezogen werden. „Zudem würden Höchstgerichte von Volksvertretern gewählt. Und junge Leute könnten bereits ab 18 Jahren Abgeordnete werden.“

Und obwohl Ertugrul auch Nachteile sieht – „zum einen hätte das Parlament nicht mehr so viel Macht wie früher und dürfte Minister etwa nur mehr schriftlich befragen, zum anderen ist der Friedensprozess mit den Kurden zu wenig berücksichtigt“ – fragt er: „Was wären denn die Alternativen zur AKP?!“

Bis zum Schicksalstag sind es nicht einmal mehr zwei Wochen. Am 16. April entscheiden die Menschen in der Türkei über die politische Zukunft ihres Landes. Und egal, ob die rund 55 Millionen Wahlberechtigten beim Verfassungsreferendum ihres Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan mit einem "Ja" oder "Nein" antworten – das Ergebnis hat jedenfalls weitreichende Konsequenzen.

Seit Wochen, ja Monaten ist die Community in Aufruhr – und gespalten. Auch hierzulande sind weit mehr als 100.000 türkische Staatsbürger beim Referendum wahlberechtigt, und die Frage, ob Politiker aus Ankara in Österreich wahlwerben dürfen, beschäftigte die Innenpolitik über Wochen.

Für den KURIER ist das richtungsweisende Referendum Anlass genug, einen Blick auf die türkisch-stämmigen Mitbürger zu werfen.

Wie leben sie, was bewegt sie?

Warum fühlen sich manche ganz selbstverständlich als Österreicher, andere bloß als hier Geduldete? Und vor allem: Wie kann in einer ohnehin über Gebühr aufgeheizten Stimmung das Zusammenleben noch besser oder überhaupt funktionieren?

Fragen wie diesen widmet sich der KURIER in den kommenden Tagen eingehend. Ein Reporter-Team hat mit Dutzenden Menschen gesprochen und verschiedenste Schauplätze besucht, darunter Moscheen und Kulturvereine, Schischa-Bars oder auch ein türkisches Gymnasium.

Ein unvoreingenommener Blick

Prediger, Vereinsobleute und Wirte, einfache Arbeiter und Akademiker, sie alle kommen zu Wort, und bei den Begegnungen und Recherchen stand und steht im Vordergrund, einen möglichst unvoreingenommenen Blick auf die Welt der Austro-Türken zu werfen.

Fest steht: Um den freundschaftlichen Austausch der beiden "Welten" steht es nicht zum Besten. Wie sonst wäre es zu erklären, dass zwei Drittel der Österreicher laut einer KURIER-OGM-Umfrage zwar beruflich und im Alltag mit türkischen Mitbürgern in Kontakt stehen, dass aber satte drei Viertel antworten, sie würden privat keinen Kontakt zu türkischen Mitmenschen pflegen (Grafik)?

Fest steht außerdem: Die Türken oder die türkische Community gibt es nicht.

Zu bunt, zu vielfältig und widersprüchlich ist die Welt der mehr als 262.000 Menschen, die in Österreich einen türkischen Migrationshintergrund haben.

Ihr lebt hier

Der Titel der KURIER-Serie "Unsere Türken" ist in dieser Hinsicht alles andere als vereinnahmend oder despektierlich, sondern vielmehr eingemeindend gedacht, frei nach dem Motto: Ihr lebt hier, ihr habt hier Platz, ihr gehört hierher zu uns.

Warum mit einzelnen Vertretern der türkischen Community kontroversielle Dialoge mitunter schwierig sind; welche unterschiedlichen Wahrnehmungen es zur Türkei und Österreich gibt und wo türkisch-stämmige Menschen die wahren Probleme des Zusammenlebens und der Politik verorten, das und vieles mehr soll die folgende KURIER-Serie in den nächsten beiden Wochen durchaus intensiv ausleuchten.

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