Trotz Wahlarzt-Boom: Warum Ärzte ins Kassensystem wechseln

Trotz Wahlarzt-Boom: Warum Ärzte ins Kassensystem wechseln
Die Zahl der Wahlärzte boomt. Gegen den Trend wechseln aber immer wieder manche von ihnen ins vermeintlich unattraktive Kassensystem. Der KURIER hat mit zwei Ärzten über ihre Beweggründe gesprochen.

Kaum eine Statistik verdeutlicht besser die Misere im Gesundheitssystem: Während in den vergangenen 25 Jahren die Zahl der Kassenärzte trotz wachsender Bevölkerung stagniert, ist die Zahl der Wahlärzte förmlich explodiert. Längst schon haben die Privatärzte, deren Leistungen nur zu einem kleinen Teil von den Kassen erstattet werden, die Kollegen in den Kassen-Ordinationen zahlenmäßig überflügelt.

Häufig werden die angenehmeren Arbeitsbedingungen ins Treffen geführt, die hinter dem Wahlarzt-Boom stecken sollen. Können sie sich doch genügend Zeit für ihre Patienten nehmen, während eine Kassen-Ordination oft geprägt ist von einer Massenabfertigung der Kundschaft. Zudem sind sie völlig frei in der Gestaltung ihrer Öffnungszeiten.

Trotz Wahlarzt-Boom: Warum Ärzte ins Kassensystem wechseln

Dennoch gibt es immer wieder Ärzte, die den entgegengesetzten Weg gehen. Die also vom Wahlarzt zum Kassenarzt werden.

Philipp Mad ist seit etwa einem halben Jahr Kassen-Kinderarzt in Wien-Penzing. Davor arbeitete er an der Klinik Ottakring und betrieb nebenbei – wie viele Spitalsärzte – eine Wahlarztpraxis. „Arzt, speziell in einer Ordination, war für mich immer ein Traumberuf“, erzählt er.

"Fühle mich noch jung genug"

Dass er sich vor wenigen Monaten für einen Rollenwechsel entschieden hat, hat mehrere Gründe: „Mein Spezialgebiet ist die Neuropädiatrie. Hier geht es oft um Kinder, die neurologische Probleme von Geburt an haben und kaum eine Chance auf eine Privatversicherung haben.“

Als dann im Zuge der Initiative „+100“ der ÖGK eine neue Kassenstelle in Mads Umgebung ausgeschrieben wurde, meldete sich der 49-Jährige. „Den genauen Standort konnte ich frei wählen, was deutlich attraktiver als die Übernahme einer bestehenden Ordination ist“, schildert er. „Ich fühlte mich auch noch jung genug, um mich auf so ein Abenteuer einzulassen.“ 

Als es so weit war, stand Mad vor der zentralen Herausforderung: „Wie schaffe ich es, trotz größerer Zahl an Patienten den Qualitätsstandard zu halten? Es hat geklappt, aber man muss viel effizienter arbeiten.“ Dazu sei aber eine räumlich großzügig ausgestattete Ordination genauso nötig gewesen wie zusätzliches Personal, das dem Arzt organisatorische Tätigkeiten abnimmt.

Sicheres Einkommen

Diese betriebswirtschaftlichen Herausforderungen würden viele Kollegen davon abschrecken, eine Kassen-Ordination zu übernehmen. „Umgekehrt hat man die Sicherheit eines relativ geregelten Einkommens“, sagt Mad. Bei Orthopäden Roman Kleissner lief der Wechsel ins Kassensystem ähnlich ab. Drei Jahrzehnte lang war er im Krankenhaus Mistelbach (NÖ) tätig, seit 2011 betrieb er parallel dazu eine Wahlarzt-Ordination.

Die vielen Anfragen von Kassenpatienten führten Kleissner bald vor Augen, dass in der Region eine Unterversorgung an Kassen-Orthopäden bestand. „Für die gesamten Bezirke Mistelbach und Gänserndorf gab es jeweils nur einen – mit Wartezeiten von bis zu acht Wochen.“

Nach längerer Überzeugungsarbeit konnte der Arzt die ÖGK dazu bewegen, eine zusätzliche Kassenstelle zu schaffen. Mit Mitte 50 kam es ihm auch durchaus gelegen, die anstrengende Arbeit im OP vollends mit jener in einer Ordination zu tauschen. „Ich habe es nicht bereut.“

Auch für ihn war es die größte Herausforderung, das größere Patientenaufkommen zu managen. „Aber wenn man gut organisiert ist, schafft man das.“

Vollkasko-Mentalität

Ob es sich finanziell auszahle, eine Kassenordination zu übernehmen, hänge freilich vom Fach ab, betont Kleissner. „Im orthopädischen Bereich ist es durchaus erstrebenswert, in die Kassenmedizin zu wechseln.“ Weniger hingegen in Fächern wie Dermatologie oder Kinderheilkunde.

Als Kenner beider Arbeitswelten kann Kleissner nicht nachvollziehen, dass die Wahlärzte in der gesundheitspolitischen Debatte oft als Sündenböcke herhalten müssen: „Sie leisten vor allem in ländlichen Gebieten, in denen es in manchen Fächern zu wenige Ärzte gibt, einen wichtigen Beitrag in der Versorgung.“

Vielmehr müsste auch bei den Patienten ein gewisses Umdenken einsetzen: „Leider herrscht auch in der Orthopädie unter vielen Patienten die Vollkasko-Mentalität vor, dass man zu jeder Tages- und Nachtzeit in der Ambulanz die beste Versorgung bekommt.“ Dabei würde es oft schon reichen, fürs Erste ein Schmerzmittel zu nehmen. „Deshalb bin ich auch ein Verfechter der Ambulanzgebühr.“

Kommentare