Vom Suezkanal bis ins Spital: "Das System ist viel anfälliger für Schocks geworden"
Irgendwo auf der Welt steckt ein Schiff fest, schließt eine Fabrik oder crasht eine Bank. Der Komplexitätsforscher Peter Klimek erklärt, warum wir das in Österreich zu spüren bekommen.
Der Begriff „Lieferketten“ klingt ziemlich trocken. Dahinter verbirgt sich aber eine komplexe Welt aus Zusammenhängen, die etwa dafür sorgt, dass wir bei Entzündungen in die Apotheke gehen und Antibiotika kaufen können – oder eben nicht. Denn auch, dass es uns daran momentan mangelt, hat seinen Ursprung in globalen Wertschöpfungsnetzwerken. Dazu forscht Peter Klimek an seinem neuen Institut.
KURIER: Herr Klimek, währen der Pandemie haben wir zweimal in der Woche telefoniert, um über die Corona-Ausbreitung zu sprechen. Wollen Sie jetzt nie wieder Infektionszahlen sehen?
Peter Klimek: Alle, die da beteiligt waren, sind froh, dass das in dieser Intensität vorbei ist. Wir haben uns aber schon vor der Pandemie in der Modellierung damit beschäftigt, wie sich der Gesundheitszustand der Bevölkerung entwickelt, wie sich chronische Krankheiten und Kombinationen von Krankheiten entwickeln. Das werden wir auch weiterhin machen, aber jetzt ist das wieder ein Thema von mehreren.
Jetzt erforschen Sie Lieferketten, wie passt das zusammen?
Überlegen wir, wie Infektionsausbreitung funktioniert: Wir haben Systeme, die wir als Netzwerke beschreiben. In diesem Fall soziale Netzwerke. Da gibt es Individuen, die haben Zustände, sie können z. B. infiziert sein oder geimpft sein usw. In diesem Netzwerk läuft dann die Ausbreitungskaskade ab. Bei Lieferketten hat man auch Netzwerke, zum Beispiel. Kundenbeziehungen, Lieferbeziehungen. Die Knotenpunkte haben auch interne Zustände, etwa wie voll das Lager ist, usw. Wenn eine Firma, aus welchem Grund auch immer, nicht liefern kann, breitet sich der Schock zur anderen Firma aus, steckt sie sozusagen an, weil sie zum Beispiel eine Vorleistung nicht erhält. Viel von dieser Methodik ist als Antwort auf die Finanzkrise 2007/2008 entwickelt worden.
Wie kommt jetzt die Finanzkrise ins Spiel?
All diese Beispiele haben gemeinsam, dass man Abhängigkeitsbeziehungen in Netzwerken hat und lokalisierte Ereignisse systemweite Konsequenzen haben. Zum Beispiel: ein infizierter Patient kommt von China nach Europa, Lehman Brothers kollabiert, ein Schiff bleibt im Suezkanal hängen, ein Hafen schließt, weil die Mitarbeiter streiken – und wir spüren globale Auswirkungen. Warum? Weil das, was wir als Globalisierung kennen, in Wahrheit eine Konzentrierung von Produktionsprozessen war. Dadurch sind unsere Versorgungs- und Wirtschaftssysteme anfälliger für Schocks geworden.
Was heißt das in der Praxis?
Beispiel Antibiotikamangel: Auf der Welt wird nur in einer Handvoll Fabriken produziert, von denen viele auch noch in einem Land sind. Wenn bei dieser Konzentration dort etwas passiert, dann ist das System anfälliger, als es noch vor wenigen Jahrzehnten war.
Heißt das, wir hatten vor der Pandemie einfach lange Glück? Es gab schon davor Warnungen, dass wir uns in eine solche Situation hineinmanövrieren. Während der Pandemie ist dann die Nachfrage nach Antibiotika zurückgegangen, weil die Maßnahmen mehrere Infektionskrankheiten gebremst haben. Durch die Pandemie gab es Nachfrageschwankungen, mit denen das globale Produktionssystem einfach nicht mithalten konnte. Aber das hat sich schon davor unter der Oberfläche aufgebaut.
Die Nachfrage ging zurück, man hat die Produktion gedrosselt, und als die Nachfrage wieder gestiegen ist, ist man nicht nachgekommen?
Genau. Es wird oft überjährig bestellt. Das heißt, ob wir diesen Winter wieder einen Antibiotikamangel haben, wird jetzt entschieden. Auf Nachfrageschwankungen kann man gar nicht so schnell reagieren.
Wie viel sollen wir also jetzt bestellen? So viel wie möglich?
Wenn jetzt alle so viel wie möglich bestellen, dann wird es wieder knapp werden. Bevorratung muss man smart machen. Darum ist es wichtig, zu wissen, wer wie viele wovon hat, damit man, wenn es irgendwo Mängel gibt, auf dem europäischen Markt ausgleichen kann. Ein Schlüsselpunkt dabei ist aber auch, dass man einfach genauer wissen muss, welche Nachfrage man zu erwarten hat und langfristige stabile Lieferbeziehungen aufbaut.
Warum ist die Produktion von Antibiotika so konzentriert?
Das ist auch bei anderen Medikamenten so, die schon extrem lange auf dem Markt sind, und von denen es viele Generika gibt. Da sind die Profite extrem gering und es ist wirtschaftlich nicht mehr sinnvoll produzierbar in Europa. Dann bleiben nur noch China und Indien als Standorte übrig. Wenn wir also lokal produzieren, wie das immer gefordert wird, dann kostet das extra. Diesen Preis muss man dann bereit sein zu zahlen.
Treibt nicht die Unterversorgung den Preis ohnehin in die Höhe?
Das ist alles stark reglementiert. Je nach Land gibt es aber schon Mechanismen, damit man auch mehr ausgeben kann. Das heißt: In Europa kann man es sich schon irgendwie richten, aber das geht auf Kosten von anderen Ländern. In Afrika werden dann suboptimale Antibiotika eingesetzt, gegen die es jetzt schon große Resistenzen gibt. Dass die Produktion so unrentabel ist, gilt ja auch für die Entwicklung von neuen Antibiotika. Langfristige besteht das Risiko, dass es mehr und mehr Resistenzen gibt und sie einfach nicht mehr so wirksam sind.
Wie kann man das in den Griff bekommen?
Eine Möglichkeit sind Einkaufsgemeinschaften, in denen man reichere und ärmere Länder poolt. Die Ärmeren bekommen auch sicheren Zugang zu den Medikamenten und die Reicheren fördern mit ihren Beiträgen die Entwicklung neuer Antibiotika. Da gibt es Subscription-Modelle, das läuft dann wie bei Netflix, dass man seinen Antibiotikabedarf langfristig bestellt und eine gewisse Rate an neuen Medikamenten. Die EU hat einen Mechanismus über Gutscheine vorgeschlagen: Wenn man ein neues Antibiotikum entwickelt, bekommt man längere Exklusivität für andere Medikamente, an denen es mehr zu verdienen gibt.
Lässt sich vieles von dem, was wir jetzt besprochen haben, auch auf den Chipmangel übertragen?
Nein. Die Chipherstellung erfordert extrem komplizierte Technologien. Es gibt nur sehr wenige Firmen, die das Wissen haben, so etwas überhaupt zu fertigen. Der Aufbau solcher Expertise ist wahnsinnig teuer.
Wie werden sich die Klimaschutzgesetze auf die Lieferketten auswirken?
Wir haben eine massive Umstrukturierung der globalen Wertschöpfungsketten vor uns. Ein riesiges, ungelöstes Problem ist, wie Wirtschaftssysteme nachhaltiger werden, aber unser Wohlstand nicht auf der Strecke bleibt. Das ist eine Frage, die eng mit Lieferketten und Wertschöpfungsnetzwerken zu tun hat. Ähnlich ist es mit Menschenrechtsthemen. So wie der Vorschlag jetzt am Tisch liegt, klingt es nach einem bürokratischen Albtraum für viele Firmen. Wenn man es gescheit macht, muss man in die Werke z. B. Inspektoren schicken. Oder aber, man schickt nur einen Fragebogen, dann wird man aber Verstöße eher nicht aufdecken. Ich befürchte, dass da etwas herauskommt, das niemandem etwas bringt. Wir schlagen hier datengetriebene Lösungen auf Basis eines Echtzeitmonitorings von Firmenbeziehungen vor.
All dem jetzt Besprochenen liegt die Nutzung von Daten zugrunde. Ist Österreich hier auf dem richtigen Weg?
Wir sehen in Europa und in Österreich stark die Risiken, die involviert sind. Andere Länder treffen diese Risiken-Nutzen-Abwägung einfach ganz anders. Manche in Richtung Nutzen, andere noch mehr in Richtung Risiko, wie etwa Deutschland oder die Schweiz. Österreich liegt in Europa irgendwo im Mittelfeld. Wenn es um die Daten geht, sind wir nicht so schlecht aufgestellt. Aber wenn es darum geht, mit den Daten etwas Sinnvolles anzustellen, verlieren wir. Wir haben es zum Beispiel im Jahr 2023 noch nicht geschafft, dass Online-Terminreservierungen im Spital möglich sind.
Peter Klimek
Der 40-Jährige ist Physiker und Komplexitätsforscher. 2021 wurde er zum Wissenschafter des Jahres gewählt. In der breiten Öffentlichkeit wurde er als Corona-Prognoserechner bekannt.
ASCII
Seit März 2023 leitet Klimek das neue Forschungsinstitut für Lieferketten, das Supply Chain Intelligence Institute Austria (ASCII). Wirtschaftsministerium und das Land
Oberösterreich fördern mit zehn Millionen Euro.
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