Schweiz-Besuch: Direkte Demokratie ist träge

Anfang 2017 wurde in der Schweiz über Einbürgerung abgestimmt
ÖVP und FPÖ wollen sich beim Thema Direkte Demokratie die Eidgenossen zum Vorbild nehmen. Aber geht das überhaupt?

Sein Laptop hat kurz ausgesetzt, die Power-Point-Folien waren verschwunden. Aber das ist nicht der Grund, warum Corsin Bisaz jetzt irritiert wirkt. Der Wissenschaftler steht in einem Seminarraum des Zentrums für Demokratie im Schweizer Aarau. Und ein Besucher hat eine Frage gestellt, die Bisaz überrascht: Ob man bei der Direkten Demokratie denn nicht "Sicherheitsmechanismen" einbauen müsse – also Quoren oder andere Barrieren, damit keine "Kurzschlüsse" passieren können – wie etwa der "Brexit" bei den Briten.

"Wenn man sagt, das Volk ist der Souverän, und wenn man das wirklich ernst nimmt, dann kann es bei der Frage, worüber das Volk abstimmen darf, keine großen Beschränkungen geben", antwortet Bisaz. "Wo man fast alles darf, muss man eben vieles verteidigen."

Mandatare zu Besuch

Das ist ein großer Satz, den der Wissenschaftler in den Raum stellt. Und für zwei Zuhörer ist er besonders interessant. An den Tischen sitzen der frühere ÖVP-Klubchef Reinhold Lopatka und Vorarlbergs FPÖ-Mandatar Reinhard Eugen Bösch.

Die zwei sind in der Eidgenossenschaft unterwegs, um das politische System zu studieren, und das Timing passt: Immerhin verhandeln ÖVP und FPÖ gerade eine Koalition. Und bei eben dieser wollen Türkis und Blau die direkt-demokratischen Instrumente nach dem Schweizer Vorbild stärken.

Eine Hoffnung hat ÖVP-Mann Lopatka freilich schnell begraben. "Wer glaubt, man könne das Vertrauen in die Politik allein dadurch heben, indem man die direkte Demokratie stärkt, der irrt. Entscheidend ist die gute Arbeit der Regierenden – und zwar auf allen Ebenen", sagt er (siehe unten).

Tatsächlich kann man sich manches von den Eidgenossen abschauen. Allerdings gilt es zunächst mit einigen Mythen aufzuräumen.

Langsames System

Der hartnäckigste ist wohl der, wonach die direkte Demokratie der Schweizer ausnehmend schnell und effizient wäre – immerhin dürfen die Bürger direkt und bindend über alles abstimmen, was nicht "zwingendem Völkerrecht" (Sklavenhandel, Völkermord, etc.) widerspricht.

Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Einer der bestimmenden Faktoren in der Schweiz ist die Langsamkeit. Wer ein neues Gesetz anstoßen möchte, der bekommt allein zum Sammeln der 100.000 Unterschriften bis zu 18 Monate Zeit.

Hat die Initiative dann die Unterstützer beisammen, kommt es nicht sofort zur Abstimmung, sondern zu einem intensiven Hin und Her zwischen Parlament, Regierung und Initiatoren.

Konkret können Regierung und Parlament einen Gegenvorschlag zur Initiative machen. "In der Schweiz werden die Themen nie dem Parlament entzogen, es gibt einen Dialog mit den Initiatoren", sagt Experte Bisaz.

Initiative abgeblasen

Dazu gehört auch, dass Bürger ihre Volksinitiative zurücknehmen können, wenn sie das Gefühl haben, die Politik bemühe sich ernsthaft um das Anliegen. Von den 324 Initiativen, die seit 1848 erfolgreich eingereicht wurden, wurde immerhin fast jede dritte zurückgenommen.

Zwei Jahre dauert es im Schnitt vom Lancieren bis zur Abstimmung. Und angesichts dieser Langsamkeit stört es nicht weiter, dass bereits jede dritte Initiative von einer Partei angestoßen wird.

Die Abstimmung? Wie so vieles in der Schweiz ist sie abhängig vom Kanton: Manche erlauben eVoting, andere nur Urne und Briefwahl (im Schnitt stimmen die Schweizer zu 80 Prozent per Brief ab). Und in Appenzell Innerrhoden und Glarus stehen die Eidgenossen vier Mal im Jahr unter freiem Himmel, um ihr Stimmrecht zu gebrauchen.

"Nicht besonders effizient"

Das System ist nicht besonders effizient, es ist kosten- und zeitintensiv und birgt Unsicherheiten", sagt Experte Bisaz.

"Unsicherheit" ist ein noch zu harmloser Begriff für das, was überraschende Ergebnisse auslösen können.

Als die Schweizer 2016 über die "Masseneinwanderungsinitiative" abstimmten, riskierten sie damit nicht weniger als den Rauswurf aus dem EU-Binnenmarkt. 250 Milliarden Euro Handelsvolumen standen auf dem Spiel.

Ernsthafte Zweifel am politischen System äußert in der Eidgenossenschaft dennoch kaum jemand. Man ist zufrieden mit der direkten Demokratie, mehr noch: Sie gilt als unumstößlich, als Dogma. Und allein das ist für Besucher wie Lopatka und Bösch eine, nun ja, fast neue Erfahrung.

Lesen Sie am Montag im KURIER, wie die direkte Demokratie in anderen europäischen Staaten funktioniert.

Schweiz-Besuch: Direkte Demokratie ist träge
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"Bei uns wird weiterhin die repräsentative Demokratie das vorherrschende Modell bleiben. Aber ergänzend dazu die Direkte Demokratie auszubauen, ist jedenfalls überlegenswert."

Reinhold Lopatka war in der Schweiz unterwegs. Gemeinsam mit FPÖ-Parlamentarier Reinhard Eugen Bösch hat der frühere ÖVP-Klubobmann Politiker und Experten getroffen, man wollte die Besonderheiten der direkten Demokratie in der Schweiz ausloten.

Und eines ist für Lopatka jedenfalls klar: "Das ist kein politisches System, in dem rasche und spontane Entscheidungen getroffen werden. Vor jeder Abstimmung vergeht viel Zeit und es wird objektiv informiert." Gerade diese "flankierenden Maßnahmen", sagt FP-Mann Bösch, müsse man übernehmen, wolle man die direkte Demokratie ausbauen.

Tatsächlich bekommt jeder Schweizer Bürger vor jeder Volksinitiative ein Abstimmungsbuch, in dem die Argumente von Befürwortern und Gegnern umfassend dargestellt werden.

Wer kann, wer soll das in Österreich tun? Für Lopatka kommt allenfalls der Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes infrage.

Quoren (Mindestanzahl an Teilnehmern, damit die Abstimmung gilt) halten beide Parlamentarier für überflüssig. "Das gibt es ja auch bei Wahlen nicht", sagt Lopatka.

Und was ist mit den Themen, über die abgestimmt werden darf?

Während der ÖVP-Vertreter das zwingende Völkerrecht und das gesamte EU-Recht ausnehmen würde, ist Bösch zurückhaltender. "Ein EU-Austritt ist für uns derzeit kein Thema. Aber ich weiß nicht, ob man solche Abstimmungen von vornherein verbieten sollte."

Beim Umsetzungstempo steigt Bösch sogar ein wenig auf die Bremse: "Der Ausbau der direkten Demokratie muss dringend passieren. Aber gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass die Schweiz bei ihrem System eine 150-jährige Tradition hat. So etwas kann man nicht von heute auf morgen machen."

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