Karner will nach VfGH-Entscheid nach Afghanistan abschieben - aber wie?
Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat mit einem Erkenntnis in einem Einzelfall die Tür für Abschiebungen nach Afghanistan geöffnet. Bis zuletzt war diese Maßnahme aufgrund von Krieg und Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 prinzipiell nicht möglich.
Innenminister Gerhard Karner hat daraufhin das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit der Prüfung weiterer Fälle aus Afghanistan beauftragt. "Mit der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes ist ein weiterer Schritt gelungen, Abschiebungen Richtung Afghanistan wieder möglich zu machen. Ich werde mich auf europäischer Ebene eng abstimmen und mit den Experten des Innenministeriums weiter hart an diesem Thema weiterarbeiten", sagte Karner heute, Donnerstag.
"Weiterer Schritt" deshalb, weil Karner bereits vor einem Jahr auf europäischer Ebene Gespräche gestartet hat, um Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien wieder zu ermöglichen, zuletzt gab es Beratungen bei der Innenministerkonferenz auf Zypern.
Afghanistan sei auch bei einem Arbeitsgespräch mit Karners deutscher Amtskollegin Nancy Faeser Ende Juni gewesen, heißt es aus dem Innenministerium.
"Keine asyl-, sondern eine außenpolitische Frage"
Karner drückt sich in seiner ersten Stellungnahme recht vorsichtig aus - denn klar ist: Auch, wenn der VfGH seine Linie geändert hat und das absolute Nein für Abschiebungen nicht mehr gilt, heißt das noch lange nicht, dass diese auch tatsächlich durchgeführt werden können.
Es ergeben sich dabei nämlich mehrere Probleme. Das größte ist, dass Österreich (bzw. die EU) mit den Taliban verhandeln müsste. "Damit ist das kein asylpolitische Frage mehr, sondern eine außenpolitische", sagt Asylexperte Lukas Gahleitner-Gertz. Und zwar: "Wie gehen wir mit einem radikalislamistischen Terrorregime um, das durch einen Putsch an die Macht gekommen ist?" Oder anders gesagt: Mit den Taliban zu verhandeln würde bedeuten, sie als Regierung zu legitimieren.
Was bedeutet die VfGH-Entscheidung?
Bei dem VfGH-Erkenntnis handelt es sich um eine Einzelfallentscheidung. Ein Mann, der bis 2022 in Kabul gelebt hat, hat erst in Österreich und dann in der Schweiz einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt - erfolglos. In Österreich wurde sein Antrag vom BFA, der ersten Instanz im Asylverfahren, abgelehnt und eine Abschiebung für zulässig erklärt. Die zweite Instanz, das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) bestätigte diese Entscheidung.
Dagegen legte der Asylwerber dann Beschwerde beim VfGH ein - und diese wurde nun abgewiesen. Die Begründung: Die Sicherheitslage habe sich seit der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban verbessert. Zudem verfüge der Mann in seiner Heimat über ein solides wirtschaftliches Umfeld.
Genau diese Einzelfallentscheidungen macht der VfGH mit seinem Erkenntnis jetzt wieder möglich. Wie gesagt: Seit 2021 gab es prinzipiell für alle Staatsbürger aus Afghanistan Schutz.
Asylexperte Gahleitner-Gertz geht davon aus, dass das BFA die Rechtsprechung nicht nur auf neue Anträge anwenden wird, sondern auch Aberkennungen von bestehenden Aufenthaltstiteln prüft. "Man wird wohl nachschauen, ob es noch andere Fälle gibt, die ähnlich gelagert sind - also Asylberechtigte, die wirtschaftlich ähnlich gut aufgestellt sind, aus einer ähnlichen Gegend kommen."
Und was dann?
Hier die möglichen Schritte:
- Fällt der Asylbescheid negativ aus oder das Aberkennungsverfahren positiv, dann ergeht eine Rückkehrentscheidung.
- Mit dieser Rückkehrentscheidung wird eine Frist zur freiwilligen Ausreise gesetzt und der Betroffene muss sich um die entsprechenden Papiere kümmern.
- Tut er das nicht, dann kann er zur Mitwirkung gezwungen werden - etwa durch Beugehaft.
- Wenn der Betroffene kooperiert, aber nicht über Reisedokumente verfügt, dann könnte hier bereits Schluss sein. Denn fraglich ist, ob die afghanische Botschaft in Wien überhaupt dazu befugt ist, einen Reisepass oder ein Reisezertifikat auszustellen. Bekanntlich wurde die afghanische Botschafterin in Wien von der früheren (und 2021 geputschten) Regierung entsandt ist eine Gegnerin des Taliban-Regimes.
- Österreich bliebe dann nichts anderes übrig, als mit den Behörden in Afghanistan in Kontakt zu treten. Und das ist, wie oben beschrieben, eine äußerst heikle Angelegenheit.
Scheitert all das, dann tritt der Betroffene in den denkbar schlechtesten Zustand ein: Den eines "Geduldeten", erklärt Gahleitner-Gertz. Mit einer Duldung steht fest, dass der Betroffene unverschuldet nicht ausreisen bzw. nicht abgeschoben werden kann. Man "duldet", dass dieser sich weiter im Staatsgebiet aufhält. Er darf allerdings nicht arbeiten - und erhält nur Grundversorgung. Und das auf unbestimmte Zeit.
Sicherheit für österreichische Beamte
Fest steht: Wenn ein afghanischer Staatsbürger nicht freiwillig geht bzw. formal nicht gehen kann, dann braucht es "irgendeine Form der Zusammenarbeit mit dem Taliban-Regime", erklärt der Asylexperte.
Auch, was die österreichischen Beamten betrifft, die die Abschiebung durchführen würden: Erstens brauchen auch sie ein Visum im jeweiligen Land, zweitens auch die Sicherheit, dass ihnen in Afghanistan vom radikalislamistischen Regime keine Gefahr droht - etwa, im Land festgehalten zu werden (siehe unten).
Zur Lage im Land
Die humanitäre sowie die Sicherheitslage in dem seit Oktober 2021 wieder von den radikal-islamischen Taliban regierten Land bleibt weiterhin äußerst prekär. Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) und Menschenrechtsorganisationen sprechen sich klar gegen Abschiebungen nach Afghanistan aus.
Im letztverfügbaren Demokratieindex (2021) belegt der autoritär geführte Staat den letzten (von 167) Plätzen. Im Weltfriedensindex lag Afghanistan lange Zeit auf dem letzten Platz (von 163), aktuell zählte es zu den fünf am wenigsten friedlichen Ländern weltweit.
Die Taliban hätten Errungenschaften der vergangenen 20 Jahre, gerade im Bereich der Menschenrechte, "systematisch abgebaut", erklärte Leonard Zulu, Vertreter des UNHCR in Afghanistan, kürzlich im APA-Interview.
Willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen, insbesondere von früheren Regierungsbeamten oder Angehörigen von Minderheiten, stehen auf der Tagesordnung. Vor rund zwei Jahren lösten die Taliban die afghanische Menschenrechtskommission auf.
Laut Amnesty International sind vor allem Frauen und Mädchen, Akademikerinnen und Akademiker sowie Aktivistinnen und Aktivisten von den Menschenrechtsverletzungen betroffen. Mädchen dürfen seit der Machtübernahme der Taliban keine höheren Schulen und Universitäten mehr besuchen dürfen, in die Öffentlichkeit können sie nur vollverschleiert.
Laut einem Artikel der britischen Zeitung The Guardian vom Vorjahr nahm die Zahl der Suizide unter Frauen drastisch zu, so dass Afghanistan eines der wenigen Länder weltweit sei, in dem die Zahl der weiblichen Suizide jener der männlichen übersteige.
Hinzu kommen Naturkatastrophen - alleine in den vergangenen zwei Jahren vier Erdbeben - und "Klimaschocks" wie Dürren oder Überflutungen. Afghanistan ist laut dem UNHCR-Experten Zulu unter den Top vier der am stärksten vom Klimawandel betroffenen Länder.
Auch deshalb ist die humanitäre Situation in dem rund 40-Millionen-Einwohnerland äußerst prekär. Aktuell sind laut UNHCR fast 24 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Viele von ihnen sind nach Zulus Worten "einen Schritt von der Hungerkatastrophe entfernt".
Die Möglichkeit zur Wiederaufnahme von Abschiebungen nach Afghanistan begründete der VfGH in seiner Erkenntnis vom Mittwoch unter anderem mit einer verbesserten Sicherheitslage seit der Machtübernahme der Taliban und bezieht sich dabei auch auf einen Bericht der EU-Asylagentur (EUAA). Dort heißt es, dass "keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Beschwerdeführers als Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts" vorliege.
"Die Bedingungen für Abschiebungen nach Afghanistan seien einfach nicht gegeben", hält Zulu dem entgegen. Der UNHCR-Vertreter, der seit rund zwei Jahren in Afghanistan lebt, erinnert an das vor knapp drei Jahren herausgegebene "Non-Return Advisory" der Vereinten Nationen.
Die Empfehlung des UNO-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR), keine Menschen nach Afghanistan abzuschieben, schließt auch Asylwerber ein, deren Antrag abgelehnt wurde. Das Dokument habe nach wie vor Gültigkeit, betont Zulu.
Seitens des österreichischen Außenministeriums gibt es im Übrigen seit Langem eine Reisewarnung (Sicherheitsstufe 6) für ganz Afghanistan. Es bestehe eine "Risiko von gewalttätigen Auseinandersetzungen, Raketeneinschlägen, Minen, Terroranschlägen und kriminellen Übergriffen einschließlich Entführungen, Vergewaltigungen und bewaffneter Raubüberfälle im ganzen Land", heißt es auf der Website des Außenamtes.
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