Paul Gallagher: Der Heilige Stuhl und Österreich haben unterschiedliche Funktionen. Sie wissen, dass das Thema für den Papst eines der wichtigsten ist. Von Beginn seines Pontifikats an nimmt er sich das Schicksal von Migranten und Flüchtlingen zu Herzen. Das hat mit seiner Reise nach Lampedusa begonnen – und auch während der jüngsten Bischofssynode im Oktober hat es eine Gedenkfeier für Migranten gegeben. Also ja, es gibt unterschiedliche Sichtweisen – wir kommen hier von verschiedenen Standpunkten. Ihre Regierung hat einen eher pragmatischen Zugang zu den Problemen an den Grenzen, während der Heilige Vater die Menschen zu einem mitfühlenden Zugang ermutigen will und er möchte Menschen wie Regierungen ermutigen, Migranten als Menschen, nicht nur im Sinne der Statistik zu sehen.
Haben Sie dennoch Verständnis für diesen pragmatischen Zugang?
Ja, wir haben Verständnis. Wir verstehen, dass Sie ein Problem haben und dafür eine Lösung suchen müssen. Ich denke auch, es gibt in jedem demokratischen System eine große Sensitivität für die Stimmung in der Öffentlichkeit und letztlich der Wähler, auf die man Rücksicht nehmen muss. Diese Probleme hat der Papst nicht. Er sieht das humanitäre Desaster, für das er sich eine gute, menschliche, mitfühlende und christliche Antwort wünscht.
Sie haben sich mit Generalsekretären von Bischofskonferenzen aus mehreren mitteleuropäischen Ländern getroffen. Nun gibt es da nicht nur in politischen, sondern auch in kirchlichen und theologischen Fragen ziemliche Differenzen zwischen den hier vertretenen Ländern …
Ja, da gibt es große Unterschiede. Die deutsche Kirche etwa ist sehr fokussiert auf ihren „synodalen Weg“, der wiederum anderen Ortskirchen einige Sorgen macht. Jede Ortskirche ist auch ein Spiegelbild der jeweiligen Gesellschaft. Worum es uns aber geht, ist die Frage nach der Zukunft Europas aus zentraleuropäischer Sicht und die gemeinsamen Herausforderungen und Probleme zu benennen.
Wenn Sie von der Zukunft Europas sprechen: Ist Europa ein christlicher Kontinent?
Ich würde sagen, Europa ist ein Kontinent mit jüdisch-christlichen Wurzeln. Und es ist ein Kontinent, in dem das Christentum Bedeutung hat und zu dem es einen großen Beitrag zu leisten hat.
Aber diese Wurzeln sind vielfach in Vergessenheit geraten, oder?
Ja, das ist wahr. Aber nicht alle haben sie vergessen. Und es gibt viele blühende christliche, katholische Gemeinden in all diesen Ländern. Die sind vielleicht kleiner als vor 30 Jahren – aber sie sind noch da und ermöglichen den Menschen, ihren Glauben zu leben.
Papst Franziskus sagt: „Wir leben nicht in einer Ära des Wandels, sondern erleben den Wandel einer Ära.“ Was kann dazu der Beitrag der Christen sein?
Wir erleben, ausgehend vom Ukrainekrieg, eine neue Weltordnung oder Weltunordnung. Es ist offensichtlich, dass sich China neu positioniert; es wird im nächsten Jahr größere Veränderungen in den USA geben. Und Europa ist auch in einer besonderen Phase: Wir hätten nie gedacht, dass es einen solchen Krieg in Europa geben könnte. Das schockiert und ängstigt viele Menschen. Darüber müssen wir nachdenken. Nächstes Jahr sind Wahlen zum Europäischen Parlament – das wird sehr spannend. Wir haben das Wahlergebnis in den Niederlanden gesehen, viele erwarten ähnliche Entwicklungen in anderen Ländern. Also, das europäische Projekt muss neu gedacht und belebt werden. Die Menschen müssen sich überlegen: Welches Europa wollen wir, welches Europa sollen wir gemeinsam aufbauen? Und das ist auch eine Zeit, in der die Kirche einen Beitrag leisten kann.
Welche Art von Beitrag meinen Sie?
Wir können darüber reden, welche Grundsätze, welche Werte, welche Prioritäten die heutigen Europäer haben. Und wie religiöser Glaube da dazu passt. Welche Gesellschaft wollen wir? Und dazu leisten wir unseren Beitrag. Mag sein, dass es nur ein bescheidener Beitrag ist. Aber ich denke, die Leute sind dafür offener als in der Vergangenheit. Ich denke, der Heilige Vater ist sehr besorgt über die Zukunft Europas. Er ist sehr begeistert von der ursprünglichen Vision von Europa – ein Europa des Friedens, der Zusammenarbeit zur Vermeidung von Konflikten. Das müssen wir erneuern. Es geht um Frieden und um Solidarität. Und darüber kann die Kirche nicht nur reden, sondern das kann sie bezeugen. Wir brauchen Friedensstifter heute mehr denn je.
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