Tschetscheninnen klagen an: "Ehrenmorde sind keine Seltenheit"

Junge Tschetscheninnen in Favoriten
Ausgeschlossen von der Mehrheitsgesellschaft durchleben viele Frauen ein Martyrium.

"Wir sind gefangen im 18. Jahrhundert." Malika bleibt ruhig, wenn sie über die Zustände in ihrer Community erzählt. Es sei eine Selbstverständlichkeit unter Tschetschenen, dass Frauen ihren Ehemännern, Vätern und Brüdern zu gehorchen haben – wenn sie das nicht tun , habe das "oft sogar fatale Folgen", sagt sie. Wenn es in den Medien um Tschetschenen geht, werden meistens nur Männer und etwaige Straftaten beleuchtet. Die Unterdrückung, der viele Frauen aus diesem Kulturkreis im privaten Umfeld ausgesetzt sind, dringt kaum an die Öffentlichkeit.

Malika ist Anfang 20 und aus einer – für tschetschenische Verhältnisse – liberalen Familie. Sie und ihre Geschwister genießen viele Freiheiten und leben in vielerlei Hinsicht wie normale österreichische Jugendliche. So ein Leben ist in der Community aber eine Ausnahme.

Ehrenmorde

Weltweit gibt es rund zwei Millionen Tschetschenen, etwa 30.000 davon leben in Österreich. Die Mehrheit von ihnen flüchtete, so wie Malikas Familie, während der zwei Tschetschenienkriege in den 90ern und 2000ern.

Häusliche Gewalt und Ehrenmorde, oft wegen der Partnerwahl der Mädchen, sind keine Seltenheit, erzählt Malika: "Ich habe sogar mitbekommen, wie männliche Verwandte von mir ihren Freunden empfohlen haben, ihre Töchter umzubringen, als sie herausgefunden haben, dass die Mädchen in einer Beziehung sind." Maria Rösslhumer, Geschäftsführerin vom "Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser" (AÖF) kennt die Situation und sagt im KURIER-Gespräch: "Die jungen Frauen stehen unter starker familiärer Kontrolle, wobei sich nicht nur die nächsten Blutsverwandtschaft, sondern auch die weitläufige Familie beteiligt. Die Familien sind untereinander gut vernetzt."

Aus dem System auszubrechen ist schier unmöglich, und selbst wenn es Frauen gelingt zu fliehen, sind sie nicht einmal in Frauenhäusern sicher: "Wenn ein tschetschenischer Vater seine Tochter nicht am Leben lassen will, dann schafft er es auch sie zu finden und umzubringen. Sie sind unheimlich gut organisiert", bestätigt Malika. Sogar wenn sich eine Betroffene eine neue Identität zulegt und den Wohnort wechselt, "muss sie nur irgendein Tschetschene auf der Straße sehen" und leitet diese Information schon an die Familie weiter. "Da hilft auch die Namensänderung nicht viel", sagt Malika.

"Adat" und Islam

Doch warum hat sich die tschetschenische Gesellschaft – sowohl in der Heimat als auch in der Diaspora – in diese Richtung entwickelt? Drei Faktoren sind dafür maßgeblich: Der traditionelle Ehrbegriff, die tschetschenischen Kriege und die daraus resultierende islamische Radikalisierung.

Der Ehrbegriff hat im tschetschenischen Gemeinschaftsrecht "Adat" eine zentrale Stellung. Laut Kerstin Susanne Jobst, Professorin am Institut für osteuropäische Geschichte an der Uni Wien, reglementiert das "Adat" die Rolle der Frau und verschiedene Gesellschaftsbereiche der Tschetschenen sehr streng. Wird die Familienehre beschmutzt, wird zu drastischen Maßnahmen wie Blutrache und Ehrenmord gegriffen. In der Debatte geben Experten aber immer wieder zu bedenken, dass Tschetschenen keine homogene Bevölkerungsgruppe sind und es – wie in jeder Kultur – verschiedene Strömungen gibt. Tschetschenen haben sich in den vergangenen drei Jahrzehnten in der Diaspora isoliert, was Integrationsbemühungen massiv erschwert, erklärt Uni-Professorin Jobst. Auch die Konflikte mit Russland haben bei der Bevölkerung ein Trauma ausgelöst: Seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 wurde Tschetschenien von zwei langen Kriegen erschüttert, die für massive Flüchtlingsströme sorgten. In diesem Chaos fanden viele Menschen Halt in der Religion, wurden laut Malika aber auch durch äußere Einflüsse radikalisiert: "Seitdem irgendwelche Araber nach Tschetschenien gezogen sind und dort den radikalen Islam verbreitet haben, hat sich auch die Einstellung der Tschetschenen geändert. Nicht nur in Tschetschenien, sondern auch hier in Österreich."

Aus Verfassungsschutzberichten geht hervor, dass unter den IS-Kämpfern weltweit ungefähr 1700 Tschetschenen sind – Russisch ist nach Arabisch und Englisch die meistgesprochene Sprache im Kalifat.

Es besteht Hoffnung

Malika sieht jedoch nicht alles an ihrer Kultur negativ und erzählt etwa über die Gastfreundschaft der Tschetschenen, wo Gästen völlig selbstverständlich ein Festmahl gekocht wird, oder der große Respekt vor der Mutter. Sie sieht auch Hoffnung für die Zukunft junger Tschetschenen in Österreich: Es gibt nicht wenige Mädchen – und auch Burschen – die mit den jetzigen Strukturen unzufrieden sind. Was zeigt, dass die Community sich emanzipiert – wenn auch langsam.

(von Lukas Kreimer & Bernardo Vortisch)

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