Vranitzky: "Entgleisungen von Kickl regen mich nicht besonders auf“
KURIER: Herr Vranitzky, Sie haben das ORF-Sommergespräch mit FPÖ-Chef Herbert Kickl gesehen. Welchen Eindruck hat er Ihnen vermittelt?
Franz Vranitzky: Kickl bleibt Kickl inklusive Entgleisungen über die Identitären als NGO oder die EU als Drittes Reich. Aber sie regen mich nicht besonders auf, weil mein Erwartungspegel ihm gegenüber ausdefiniert ist.
Aber wenn man sich über die vergangenen Monate hinweg die Umfragen anschaut, dann wird er nach der Wahl 2024 den Kanzlerauftrag bekommen.
Wenn die Wahlen so ausgehen wie die Umfragen, spricht dann noch die Hofburg. Ich trete deswegen dafür ein, dass wir – damit meine ich die österreichischen Politiker und die europäisch interessierten Menschen – uns eine nächste Stufe des Diskurses verordnen. Dass wir nachdenken und uns austauschen darüber, was die Konsequenz all dessen ist, was wir derzeit im Hinblick auf den Rechtspopulismus erleben. Bei uns zu Hause, in Deutschland mit der AfD, in Osteuropa etwa mit Viktor Orbán. Wo führt das hin? Da muss man zu der Frage gelangen, wozu ist eigentlich die Politik da.
Und was ist die Antwort?
Wenn man zu dem Ergebnis kommt, dass Politik dazu da ist, um zum Nutzen der Bevölkerung Vernünftiges und Perspektivisches auf die Beine zu stellen, dann wird der Rechtspopulismus nichts als die große Leere vorzuweisen haben. Die Infrage-Stellung des Rechtsstaates, die Infrage-Stellung der Meinungsfreiheit, der Medien in Ungarn aber auch in anderen Teilen Europas, die Infrage-Stellung der Europäischen Union. Die ziemlich eindeutige Aversion gegen die Maßnahmen, die die freie Welt gegen Putin ergriffen hat. Wenn ich versuche, das in die Interessenslage der Bevölkerung umzusetzen, komme ich zu einer anderen Frage. Was für ein Interesse kann ein Staatsbürger denn haben, wenn die rechtsstaatlichen Möglichkeiten für ihn eingeschränkt oder aufgehoben werden?
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Der Rechtspopulismus sieht sich auch als Teil der Demokratie. Und er ist momentan jener Teil, der den meisten Zulauf hat. Das ist so.
Meine These ist aber, lasst uns weitergehen und die Akzeptanz dieses rechtspopulistischen Gemenges infrage stellen. Jeder kann in die Lage kommen, dass er für seine eigenen Interessen einen Richterspruch braucht. Da braucht er einen funktionierenden Rechtsstaat. Und ich gehe noch einen Schritt weiter. Wir stehen seit 48 Stunden unter dem Eindruck, dass sich die größten Schwellenländer zu einer Formation zusammengeschlossen haben. Darunter Größen wie China oder Russland.
Die sogenannten BRICS-Staaten.
Ja. Da zu sagen, wir geben die Europäische Union auf und wir schließen uns ein, machen eine Festung Europa, wie es Kickl und andere Leute in die Bierzelte brüllen, muss ja dem Arbeiter, dem Angestellten, dem Forscher, dem Lehrer, dem Altersbetreuer ein Alarmsignal geben und sagen, wenn wir die Kräfte der 27 europäischen Staaten nicht zusammenführen, kommen die BRICS-Staaten daher und bestimmen in Zukunft alles weltwirtschaftlich Bedeutende. Die Rohstoffe, die Absatzmärkte, die Energielieferung, usw. Also müssen wir gemeinsam stark sein. Das hat aber auch nur einen Nutzen, wenn ich es nach außen bin. Welchen Sinn hat es, weltwirtschaftlich innerhalb einer Festung stark sein zu wollen?
Es wird immer gefragt, was den Rechtspopulisten diesen Zulauf beschert. Und da taucht immer wieder auf, dass es die Unzufriedenheit der Menschen ist. Wie soll man damit umgehen?
Das ist das, wo wir heute von der Wut sprechen. Viele Menschen ärgern sich über so manches. In der Corona-Zeit waren es die Lockdowns oder auch, dass es keinen Impfstoff gegeben hat. Über irgendetwas ärgert man sich in einer Notsituation immer. Das ist zutiefst menschlich. Der Mensch ist ja kein Geschöpf der Gleichgültigkeit, sondern der Interessen – seiner Interessen. Wenn jetzt auf längere Sicht meine Interessen missachtet oder gar ignoriert werden, suche ich irgendeinen Schuldigen. Wer ist der Schuldige? Wenn es um die Politik geht, ist das die Regierung, der Landeshauptmann oder der Bürgermeister. Jetzt kommen die Rechtspopulisten, die sagen, du hast ja recht, die sind ein Gesindel und sowieso korrupt. Sei doch mit uns dagegen.
KURIER Talk mit Franz Vranitzky
Das scheint momentan die Diskussionsspirale zu sein.
So weit kann man das ja noch verstehen. Aber wenn ich dann einige dieser Damen und Herren frage, wenn etwas nicht ganz gut von der Regierung gemacht worden ist, aber was würdest du als Alternative vorschlagen, dann kommt nichts oder nichts Brauchbares. Deswegen muss man nachdenken und überlegen, was man dem Wutbürger – bei allen wird es nicht gelingen – anbieten kann. Und den Menschen alles auch genauer und besser zu erklären. Vor allem in einer Zeit, die so schnelllebig ist. Ich ertappe mich selbst dabei, dass ich bei manchen Sachen nicht gleich nachdenke, ob es richtig oder falsch ist, was mir da erzählt wird. Nach kurzer Zeit entdecke ich den berühmten Holler.
Und das trifft dann vor allem die Politik?
Verlorene Wähler zurückzuholen oder eine Argumentationslinie zu ändern ist unheimlich schwierig. Was sich der Mensch vorgenommen hat, zu glauben, glaubt er auch.
Es wird immer gesagt: Die Stärke des einen ist die Schwäche der anderen. Auf die momentane Situation in der Politik umgelegt: Die Stärke der FPÖ ist die Schwäche der anderen Parteien, vor allem von ÖVP und SPÖ.
Ich bin nicht zu Ihnen gekommen, um über die anderen Parteien zu schimpfen. Aber man muss eine Art Fehleranalyse machen. Und es sind schon Fehler passiert. Damit ich nicht in erster Linie über andere rede, rede ich über die SPÖ.
Der erste Fehler war der Abgang des Christian Kern, der zweite Fehler war, Frau Pamela Rendi-Wagner nicht oder gerade noch zu unterstützen. Und dann hat es noch einiges gegeben. Was die derzeitige Parteiführung tun muss und auch tut, ist, die Fehler aufzuspüren und zu beseitigen oder durch Alternativideen zu ersetzen.
Und wie ist das bei der FPÖ?
Ein Freiheitlicher wird nie sagen, wir haben etwas falsch gemacht. Der wird immer sagen, wir haben alles gut gemacht. Grundsätzlich wird ein Freiheitlicher sagen, wenn ein Österreicher etwas kritisiert, dass er eh recht hat, weil zum Beispiel der Landeshauptmann ein Dummkopf ist und es nicht kann. Die sind ja auch nicht höflich. Die sagen nicht, der Landeshauptmann hat sich geirrt, die geben ihm gleich ein Schimpfwort. Ansonsten beschweren sich die Freiheitlichen darüber, dass Kritik an ihnen Kritik an Österreich ist.
Die Frage ist auch immer, wie gehe ich mit dieser Partei um. Sie haben als Kanzler ihrer Partei die so genannte Vranitzky-Doktrin verpasst, wonach es keine Zusammenarbeit mit der FPÖ gibt. Das wurde nun mit einem Wertekatalog etwas aufgeweicht. Aber der neue Bundesparteiobmann Andreas Babler hat erneut jegliche Koalition mit der FPÖ ausgeschlossen.
Ganz nüchtern und trocken nehme ich für mich in Anspruch, dass ich nicht der Bundesparteivorsitzende gewesen bin, der eine Koalition mit den Freiheitlichen nicht eingegangen ist, ich war der, der eine bestehende aufgelöst hat.
Damals war ohnehin alles auf eine Große Koalition ausgerichtet?
Ich weiß, dass bei Ihrer Zunft die Große Koalition keinen so guten Namen hat. Aber das muss man zeitgeschichtlich analysieren. Das ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass in den letzten Jahren der Großen Koalition unter Kern und Kurz man jeden dritten Tag nur lesen konnte, dass nichts weitergeht. In meiner Zeit, in den 1980er- und 1990er-Jahren war es ein dickes Bündel an Regierungsmaßnahmen, die erfolgreich waren. Die Steuerreform von Ferdinand Lacina war eine der größten in Zweiten Republik. Und Lacina ist von einer Fachzeitschrift in London zum Finanzminister des Jahres gewählt worden.
Oder wir haben in unserer Koalition die Klarstellung zum Staat Israel getroffen, das war damals auch nicht so selbstverständlich. Vom EU-Beitritt rede ich gar nicht. Die verstaatlichte Industrie lag am Boden und wir haben sie wieder aufgerichtet. In einer Parteikonstellation, wo die ÖVP jahrelang gesagt hat, die Verstaatlichte ist ein Schrotthaufen. Und dann haben wir es Schulter an Schulter in Ordnung gebracht.
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Eine Frage noch zur SPÖ, weil es seit Juni einen neuen Bundesparteivorsitzenden gibt. Was erwarten Sie sich von Andreas Babler?
Gemessen an den Erfahrungen, die wir im vergangenen Jahrzehnt als Sozialdemokraten gemacht haben, erwarte ich mir viel. Weil ich mir viel erwarten muss. Wenn jemand, so wie ich, dieser Partei nicht nur ideell angehört, sondern sich auch Gestaltungsaktivitäten erwartet, der hat natürlich hohe Ansprüche an die Partei. Da geht es um das Programm, und dann auch um eine Organisation, die dieses Programm umsetzen kann.
Und an erster Stelle geht es um die Personen, die das überzeugend vor sich her tragen. Das alles – mehr oder weniger, eher mehr – muss der Bundesparteivorsitzende in sich verkörpern. Als Vorbild, als Führungsperson, als jemand, der für die anderen da ist. Ich will das Wort „dienen“ nicht sagen, falsch wäre es nicht. Er muss Führungsarbeit leisten, wobei alle anderen die Überzeugung gewinnen müssen und ihm deshalb folgen. Erwartung, Hoffnung, Vertrauen als Einheit. Konservative haben sich bisher gegen Rechtspopulismus nicht hervorgetan.
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