Sozialexperte: „Zigtausende Pflegekräfte ausbilden oder anwerben“

Sozialexperte: „Zigtausende Pflegekräfte ausbilden oder anwerben“
Der Arbeitsmarkt muss insgesamt weiblicher werden, derzeit arbeitet eine Million Frauen in Österreich nur Teilzeit.

In den 2030er-Jahren wird bereits mehr als eine Million Österreicher über 80 Jahre alt und in Summe fast eine weitere Million an Pensionisten dazu gekommen sein, schätzt der Sozialforscher und Pensionsexperte Bernd Marin. „Allein um die Pflegeproblematik zu lösen, müssen Zigtausende Pflegekräfte ausgebildet und angeworben werden“, sagt Marin im Gespräch mit dem KURIER.

Eine allgemeine, ungesteuerte Zuwanderung könne nach Ansicht des Experten bloß helfen „Zeit zu kaufen, um Reformen zu vertagen, sie aber nicht ersetzen“. Marin kritisiert, dass die türkis-blaue Bundesregierung die „bisherige Stillstandspolitik im Pensionsbereich einfach fortsetzt und in dieser Legislaturperiode kaum das Nötigste tun will – bei objektiv steigendem Reformbedarf“.

Kanada als Vorbild

Denn die Daten zeigen: Ohne Zuwanderung würde Österreichs Erwerbsbevölkerung schrumpfen – um etwa 1,5 Millionen bis 2050. Marin ist daher klar für eine „qualifizierte Zuwanderung etwa nach dem Vorbild Kanadas“.

Der Experte erinnert: „Im Jahr 2016 waren nur 0,6 Prozent aller Zuzügler Schlüsselarbeitskräfte. Rund 85 Prozent der Zuwanderung war dem Heiratsmarkt, den Familienzusammenführungen und der Flüchtlingsbewegung geschuldet, statt arbeitsmarktgesteuert.“

Auch auf dem Arbeitsmarkt sieht Marin hohen Reformbedarf, um den Babyboomer-Pensionsschock abzufedern. Rund eine Millionen Frauen arbeiten heute in Österreich nur in Teilzeit, mehr Vollzeitarbeit wäre also ein wichtiger Beitrag, auch für die Frauen selbst. Denn, so Marin: „Das ist – außer vielleicht bei Apothekerinnen – programmierte, mehrheitliche Altersarmut.“

Und wie viel Zuwanderung wäre nötig, um die absehbare Pensionswelle der Babyboomer abzufangen?

Rund 44.000 Zuwanderer pro Jahr und damit doppelt so viele wie im Durchschnitt seit 1960 brauche Österreich allein schon, um die Erwerbsbevölkerung bis 2050 stabil zu halten. Diesen Wert hat der heutige Bildungsminister Heinz Faßmann schon 2016 errechnet, als er noch der wichtigste Integrationsberater des damaligen Außenministers Sebastian Kurz war.

225.000 Zuwanderer bis 2030 nötig

Was Faßmann auch zeigte: Bis 2020, also sofort, würde Österreich nicht nur 44.000, sondern 118.000 Migranten, und bis 2030 sogar 225.000 Zuwanderer pro Jahr brauchen, um die so genannte Alterslastquote stabil zu halten. Diese Quote misst das für die Finanzierung des Pensionssystems wichtige Verhältnis zwischen Erwerbsfähigen und Pensionisten.

Marin sagt dazu: „Das zeigt klar, wie wichtig weitere Reformen, etwa die nötige Koppelung des gesetzlichen Pensionsalters an die Langlebigkeit wäre. Denn Zuwanderung, ganz genau: Ein Zuwanderungsüberhang gegenüber Abwanderung von 118.000 bis 225.000 Personen jährlich wäre das Fünf- bis Zehnfache der Netto-Immigrationsrate der letzten Jahrzehnte. Das wäre sozial völlig unverträglich.“

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