KURIER: Herr Präsident, die neue Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat angekündigt, Europa solle der erste klimaneutrale Kontinent werden. Ist das realistisch oder nur eine Überschrift?
Wolfgang Schäuble: Wie ich Frau von der Leyen kenne, ist das bei ihr nicht bloß eine Überschrift, sondern ein Ziel. Klar ist allerdings auch, dass wir nicht über Nacht alle Probleme lösen können. Das müssen wir auch den jungen Menschen von „Fridays for Future“ sagen, die natürlich Druck machen. Sie sagen zu Recht: Das ist unsere Zukunft.
Was kann denn schnell gemacht werden?
Wir müssen die Reduktion des -Ausstoßes in Deutschland umsetzen. Wir Deutsche haben keinen Grund, andere zu ermahnen, ohne selbst zu handeln.
Ist eine CO2-Steuer sinnvoll?
Es ist inzwischen weitgehend Konsens in der Regierung und auch überwiegend im Parlament, dass der Preis für CO2 steigen muss. Das kann über eine Abgabe geschehen oder den Preis für Emissionszertifikate. Bei den Zertifikaten ist die Umsetzung viel komplizierter. Die CO2-Steuer könnte man sofort einführen.
Muss man Osteuropa bei der Energiewende helfen? Polen hat noch viele Kohlekraftwerke.
Mein Rat ist eher ein genereller. Wir sollten wirklich auf die größte Errungenschaft der europäischen Einigung achten: die Teilung Europas überwunden zu haben. Österreich und Deutschland liegen mitten in Europa, und gemeinsam müssen wir versuchen, Süd und Nord, Ost und West zusammenzuhalten. Wir müssen der Versuchung widerstehen, den anderen Ratschläge zu geben, die nur auf unseren eigenen Erfahrungen beruhen. Ich kenne das aus der deutschen Wiedervereinigung. Die Menschen aus der ehemaligen DDR haben gesagt: Wir haben unsere eigenen Erfahrungen, wir wollen nicht immer von euch hören, wie man es richtig macht.
Dieses nicht auf Augenhöhe behandelt zu werden – ist das eine Quelle für gesteigerten Nationalismus im Osten?
Ich möchte präzise sein: Es reicht doch schon, wenn die Menschen das Gefühl haben, nicht auf gleicher Augenhöhe behandelt zu werden. Das trägt sicher zu einer gewissen Fremdheit bei.
Ost und West trennt die Migrationsfrage. Von der Leyen will die Dublin-Regeln durch ein neues System ersetzen, sie sagt, sie habe Dublin nie verstanden. Sie haben als Innenminister an der Entstehung der Dublin-Regeln mitgewirkt – sehen Sie eine Alternative dazu?
Das Dublin-System ist schon richtig. Es entspricht der Genfer Flüchtlingskonvention, nach der derjenige keinen Anspruch auf Schutz hat, der bereits in einem anderen Land Schutz gefunden hat. Der Punkt, an dem Frau von der Leyen mit ihrer Kritik recht hat, ist, dass man Dublin nicht mit einem Verteilungsschlüssel versehen hat. Ohne einen Verteilungsmechanismus, der von allen akzeptiert wird, kann das Dublin-System nicht funktionieren. Das muss man klar sagen.
Wie kann eine Weiterentwicklung aussehen?
Die Perspektive ist so schmerzhaft wie klar: Es werden Menschen nach Europa kommen, die müssen wir gut behandeln, gerecht verteilen und optimal integrieren. Wir brauchen Zuwanderung. Aber zugleich müssen wir verhindern, dass sich in der ganzen Welt herumspricht, Europa sei offen für jedermann. Das wäre die beste Geschäftsgrundlage für die Schlepperbanden. Es kommen ja nicht die Ärmsten der Armen aus den Subsahara-Ländern, sondern in der Regel die, die Schlepper bezahlen können. Deswegen müssen wir in den Herkunftsländern das Problem der Migration an der Wurzel bekämpfen und die Nachbarländer vor Ort, die Flüchtlinge aufnehmen, unterstützen.
Wie stehen Sie zur Seerettung?
Wir brauchen nicht von Werten zu sprechen, wenn wir Menschen in Lebensgefahr nicht helfen würden. Aber auch Seenotrettungs-Organisationen müssen falsche Signale vermeiden. Allein mit den Seenotrettungen im Mittelmeer ist das Problem nicht gelöst, weil es einen Pull-Effekt hat. Wenn die Verhältnisse in Libyen nicht so sind, dass man verantworten kann, Flüchtlinge dorthin zu schicken, muss man gegebenenfalls auch durch Militär geschützte Unterbringungsmöglichkeiten schaffen.
Wenn Großbritannien aus der EU weg ist, wird ein bisschen was in der EU-Kassa fehlen. Wird Deutschland einspringen?
Österreich auch (lacht). Aber wenn der Brexit stattfindet, ist das Finanzproblem das geringste. Der Brexit würde eine erhebliche wirtschaftliche Belastung. Deswegen ist es entscheidend, dass ein Deal noch gelingt, der einen ungeregelten Austritt verhindert.
Also keine Kürzungen im EU-Haushalt, sondern die Zahlungen an die EU aufstocken?
Wenn mich in Deutschland jemand fragt: „Müssen wir noch mehr zahlen?“, antworte ich immer: Wir zahlen nicht für andere, wir investieren in unsere eigene Zukunft. Denn wenn es in Europa nicht gut geht, geht es uns in der Mitte Europas auch nicht gut. Und wenn unsere Nachbarn keine stabilen Verhältnisse haben, werden auch wir keine gute Zukunft haben. Wenn die EU die Erwartungen der Menschen in Europa erfüllen will, wird es entsprechende Mittel brauchen.
Frau von der Leyen hat auch transnationale Listen bei EU-Wahlen angekündigt, sie will das Spitzenkandidatensystem neu aufsetzen. Halten Sie eine Stärkung des Parlamentarismus auf EU-Ebene für wichtig?
Ja. Ich bin ein Anhänger des Spitzenkandidatenprinzips. Ich habe es bedauert, dass meine Fraktion, die EVP, den Vorschlag Macrons nach teilweiser Einführung nationaler Listen abgelehnt hat, ich hätte persönlich dafür Sympathien gehabt. Wir müssen uns in Europa darüber verständigen: Wie schaffen wir es, dass die Europäer zu den europäischen Entscheidungen mehr Vertrauen haben? Dazu müssen sie demokratisch legitimiert sein. Man sollte dabei pragmatisch voran gehen, eventuell in unterschiedlichen Geschwindigkeiten.
Sie rechnen damit, dass in den nächsten Jahren bei verschiedenen Fragen Länder gruppenweise voran gehen?
Am liebsten wäre mir, alle gingen gemeinsam voran. Aber da das nicht realistisch ist und der Langsamste nicht das Tempo bestimmen darf, wird es unterschiedliche Geschwindigkeiten geben.
Ihre Partei, die CDU, lehnt eine Koalition mit der rechten AfD entschieden ab, auf allen Ebenen. Wie gehen Sie als Bundestagspräsident damit um?
Wir haben über 90 Abgeordnete der AfD im Bundestag. Die sind genauso demokratisch legitimiert wie jeder andere Abgeordnete. Was die CDU anbetrifft – ich habe viel Sympathie für die Position meiner Partei, denn die AfD zieht keine klaren Grenzen zu allen möglichen Gruppierungen, mit denen man als demokratisch legitimierte Partei nichts zu tun haben darf. Außerdem pflegt sie in Teilen einen Umgang mit der Verantwortung, die den Deutschen aus der Geschichte zuwächst, der für mich und für meine Generation schwer zu ertragen ist. Insofern: Niemand kann zur Zusammenarbeit mit jemanden gezwungen werden, den man so gar nicht mag. Das ist die Grundlage von Freiheit.
Ist die Zukunft Schwarz-Grün?
Wir als Partei, die ja wertkonservativ sein will, würden doch etwas versäumen, wenn wir unsere Umwelt nicht erhalten wollten. Es gibt im Übrigen keinen Beschluss unserer Partei, wonach wir nicht mit den Grünen zusammenarbeiten sollten.
Neben Frau von der Leyen in der Kommission kommt mit Christine Lagarde erstmals eine Frau an die Spitze der EZB. In deutschen Medien hat man mitunter den Eindruck, der Aufstieg der Frauen wird von Machismus begleitet. Wie sehen Sie das?
In der deutschen Politik sind wir gut voran gekommen, Angela Merkel ist seit 2005 erfolgreiche Kanzlerin. Lassen Sie es mich so sagen: Den Bankern tut es gut, dass da auch mal eine Frau Verantwortung übernimmt.
Woran liegt das hohe Interesse der Deutschen an österreichischer Innenpolitik?
Österreich ist ein wichtiges Nachbarland. Sie hatten bis vor Kurzem einen sehr dynamischen, jungen Kanzler. Das Interesse und der Respekt für Österreich sind wegen Sebastian Kurz und dem, was er zustande gebracht hat, groß. Außerdem sind im Ersten deutschen Fernsehen die österreichischen Tatort-Folgen die attraktivsten (lacht).
Hat es Sie gewundert, wie schnell es in Österreich zu Neuwahlen kam?
Die Ereignisse, die Sie mit der Insel Ibiza verbinden, haben wir mit ähnlich großem Interesse verfolgt wie Sie hier. Aber wer sich sicher ist, dass das im eigenen Land nicht auch hätte passieren können, hat von der Welt wenig verstanden. Ich schaue mit großem Respekt auf die österreichische Innenpolitik und wie diese schwierige Situation vom damaligen Kanzler und vom Bundespräsidenten gemeistert wurde. Manches von dem, was Sie in Österreich hinkriegen, würde ich mir in Deutschland wünschen.
Zum Beispiel?
Wie man Mautsysteme einführt oder schnelles Internet. Mir geht der deutsche Perfektionismus gelegentlich zu weit, der uns daran hindert, einen Flughafen in der Hauptstadt in Betrieb zu nehmen. Da wäre mir ein bisschen mehr Improvisation schon ganz recht.
Der CDU-Politiker (76) ist seit 2017 Präsident des deutschen Bundestages. Von 1984 bis 1991 und von 2005 bis 2017 gehörte er der Bundesregierung an, unter anderem als Innen- und Finanzminister. 1990 war er maßgeblich an der Aushandlung des deutschen Einigungsvertrags beteiligt. Schäuble ist seit 1972 Mitglied des deutschen Bundestags und damit der dienstälteste Abgeordnete aller je auf nationaler Ebene gewählten deutschen Parlamente. Wolfgang Schäuble ist seit einem Attentat im Jahre 1990 querschnittsgelähmt. Seit den Schüssen auf ihn bei einer Wahlkampfveranstaltung ist er auf den Rollstuhl angewiesen.
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