„Problemschüler“: Wie 14-Jährige plötzlich IS-Fans wurden
Noha wollte – verdammt noch einmal! – nicht trauern. Klar, elf Menschen waren tot. Und ja, zwei Attentäter hatten sie in Paris umgebracht, hingerichtet. Gut fand er das nicht. „Aber als wir in der Schule für Charlie Hebdo (islamisch motivierter Anschlag auf Redaktion von Satiremagazin 2015 in Paris, bei dem elf Menschen starben) eine Schweigeminute abgehalten haben, bin ich demonstrativ aus der Klasse gegangen“, sagt er. „Ich hab’ mir gedacht: Warum nur trauern für ein paar Menschen, die in Europa sterben, und nicht für Tausende Muslime, die täglich weltweit sterben? Ich war nicht einverstanden damit, dass sie den Propheten verhöhnt haben.“
Noha sitzt an einem Tisch in einem Wiener Beisl. Die Kappe verkehrt am Kopf, dazu schwarze Jogginghose, weißer Sweater, an der rechten Hand ein schwerer Ring.
Vor rund vier Jahren war er in einer NMS in Wien-Floridsdorf und gehörte zu jenen so genannten Problemschülern, von denen zuletzt so oft die Rede war: Muslime mit Migrationshintergrund, die fürchterliche Dinge sagen oder tun, sich dabei auf den Propheten beziehen – und für die sich der Verfassungsschutz interessiert, weil sie als mögliche Extremisten gelten.
In der Schule tobe ein „Kulturkampf“, klagen Pädagogen; eine Wiener NMS-Lehrerin hat unter diesem Titel ein Buch veröffentlicht, das sich ausnehmend gut verkauft.
Aber ist es wirklich so? Und wie kommt es dazu, dass einer wie Noha, der seit seinem 4. Lebensjahr in Österreich lebt, als Teenager plötzlich sagt, man müsse „Ungläubigen“ die Köpfe abschneiden?
Noha, sein jüngerer Bruder Arthur und Freund Merlin sitzen jetzt hier, um ihre Geschichte zu erzählen. Sie haben sich Fantasienamen gegeben, weil sie die richtigen nicht in der Zeitung lesen wollen.
Zeigt Respekt
Der erste Impuls, dass ihre Familie das „Problem“ sei, trifft so gar nicht zu. „Unser Vater ist ein gottesfürchtiger Mann, aber er ist eher liberal“, sagt Arthur. „Schon als Kinder hat er zu uns gesagt: ,Passt Euch an! Österreich hat euch als Flüchtlinge Essen, Trinken und ein Dach über dem Kopf geschenkt. Ihr seid ein Teil davon, zeigt Respekt!“
Es kam anders. „Wir gerieten an die falschen ,Freunde’.“ Aber warum, Noha? Warum trifft sich jemand, der in der NMS lauter Einser hat, später mit IS-Sympathisanten?
„Es gibt kein Schlüsselerlebnis, nur viele kleine Verletzungen“, sagt Arthur. „Begonnen hat es mit dem Gefühl, dass wir als Tschetschenen in einer Schublade sind, dass uns niemand hier will. Wir standen unter Generalverdacht.“
Als Arthurs älterem Bruder einmal 200 Euro geschenkt werden, schickt ihn eine NMS-Lehrerin zum Direktor und beschuldigt ihn des Diebstahls – welcher tschetschenische Bub hat schon 200 Euro in bar? Später stellt sich heraus: Der Direktor selbst hat ihm das Geld gegeben – als Hilfe für die Familie.
Als Noha bei einer Mathe-Schularbeit alle Punkte schafft, sagt ein Lehrer: „Du hast geschummelt, gib’s zu!“ Noha nimmt das Gespräch heimlich auf, stellt das Video ins Netz – jetzt hat er viele Feinde im Konferenzzimmer. „Als in Deutschland und Frankreich Attentate passiert sind, wurde ich vor der ganzen Klasse gefragt: ,Was denkst eigentlich Du darüber?“ Als würde ausgerechnet ich die Morde gut finden.“
Immer wieder passiert das. „Irgendwann ist da viel Zorn und Du denkst dir: Gut, dann sollen sie kriegen, was sie wollen.“ So kam auch der Protest beim Charlie-Hebdo-Gedenken. Heute findet Noha das alles falsch und traurig. „Aber damals war da nur das Gefühl: Wir können nie genug tun, um akzeptiert zu werden.“
Genau in diesem Gefühl und mitten in der Pubertät, holen die Salafisten die jungen Buben ab. „Die IS-Fans waren damals überall: Am Handelskai, am Praterstern, überall“, sagt Merlin. Zu Beginn geht man gemeinsam Grillen auf die Donauinsel. „Wir fühlten uns verstanden, aufgehoben.“
Später werden Koran-Suren gelernt – nur die, die in das Bild der Radikalen passen. Die Salafisten geben ihnen eine simple Botschaft an die Hand: „Die Menschen in Österreich lehnen euch ab, weil sie ungläubig sind. Wir haben uns eingeredet, wir seien im Feindesland.“ Die Konsequenz: mehr Hass.
Bei der Frage, warum Noha, Arthur und ihr Freund Merlin nicht als verblendete IS-Opfer in Syrien gestorben sind, kommt wieder der Vater ins Spiel. Als die jungen Männer radikalisiert sind, als sie Schule schwänzen und eine Moschee mit Hassprediger besuchen, nimmt der Vater ihnen ein Versprechen ab. „Kommt noch einmal in meine Moschee.“ Was dort und in den Monaten danach passierte, erzählen sie im Schnelldurchlauf. Irgendwann dämmerte ihnen der Wahnsinn, dem sie aufgesessen waren. „Wir sahen all die Widersprüche, die uns die Salafisten erzählt haben.“ Zusätzlich halfen Sozialarbeiter zurück in die Spur.
Es waren Experten wie Verena Fabris. Fabris leitet die Beratungsstelle Extremismus, die beim „Bundesweiten Netzwerk Offene Jugendarbeit“ angesiedelt ist. Einer ihrer Kollegen betreut Noha, Arthur und Merlin bis heute. Fabris’ Appell an Eltern und Pädagogen ist genau hinzusehen, ehe vorschnell verurteilt wird: „Wenn jemand sagt, er wolle keine Schularbeiten schreiben, weil der Prophet Mohammed auch keine geschrieben hat, dann heißt das nicht automatisch, dass er radikalisiert ist.“ Bisweilen seien Protest oder Zorn die Gründe. „Es ist auch nicht jeder Jugendliche ein Neo-Nazi, der ein Hakenkreuz in ein Heft malt.“ Mit professioneller Hilfe, sagt Fabris, sei viel zu erreichen.
Wie bei Noha, Arthur und Merlin. Die drei helfen heute bei Workshops gegen Radikalisierung. Und sie wollen Zahnarzt-Assistenten werden. Ende September beginnt die Ausbildung. Sie freuen sich sehr darauf.
Beratungsstelle Extremismus: kostenfrei, anonym, vertraulich: 0800 20 20 44.
Kommentare