Kann Kinder aussperren okay sein?

Kann Kinder aussperren okay sein?
Katastrophale Zustände in griechischen Lagern provozieren hitzige Diskussionen. Ein Pro und Contra aus der Volkspartei.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen ist dafür. Die Kirchenoberen sind dafür. Auch viele Künstler. Die FPÖ ist geschlossen dagegen. Alle anderen sind mehr oder weniger gespalten. Die katastrophalen Zustände in griechischen Flüchtlingslagern führen zu hitzigen Debatten: Soll man wenigstens die Kinder aufnehmen? Kann man da überhaupt dagegen sein? Die SPÖ ist im Großen und Ganzen für die Aufnahme, hat aber gewichtige Gegenstimmen wie Hans Peter Doskozil in den eigenen Reihen. Die Grünen sind für die Aufnahme, stimmen aber im Parlament dagegen, weil sie in Koalition mit der ÖVP sind. FPÖ und die Neos haben kein Linien-Problem: die einen sind strikt gegen die Aufnahme, die anderen ebenso heftig dafür. Sebastian Kurz wurde mithilfe eines harten Anti-Migrationskurses Bundeskanzler – aber auch in der ÖVP gibt es Gegenstimmen – ein Pro und Contra aus der Volkspartei, von Bettina Rausch (Präsidentin der Politischen Akademie der ÖV) und Kurt Fischer (ÖVP-Bürgermeister von Lustenau).

Die Tragödien in griechischen Flüchtlingslagern lassen niemanden kalt. Schon gar nicht in der Weihnachtszeit. Unsere Herzen zerreißt es, unser Bauch verlangt nach Hilfe. Umso schwieriger ist es, kühlen Kopf zu bewahren, sachlich abzuwägen. Auch für mich. Denn die politischen Diskussionen sind hitzig. Kein Wunder, sind wir doch emotional betroffen, und sollten das auch sein. Darüber hinaus wird auch polemisiert und moralisiert, Gefühle werden adressiert.

Die große Frage dahinter ist nicht neu – es geht um die ethische Grundlage für politisches Handeln. Von Cicero über Kant bis Weber wurde darüber philosophiert, Letzterer brachte es auf den Punkt mit der Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Gesinnungsethik stellt die reine Absicht einer Handlung und das Eintreten für Werte und Prinzipien ins Zentrum. Verantwortungsethik hingegen richtet den Blick auch auf die zu erwartenden Folgen einer Handlung, deren Verantwortbarkeit determiniert die Einordnung. Der Soziologe Max Weber hat die beiden Maximen als „voneinander grundverschieden, unaustragbar gegensätzlich“ bezeichnet. Dennoch sei möglichst eine Balance zu finden, jedenfalls sei keinem der beiden Zugänge die Legitimität abzusprechen.

Eine Partei, deren Wurzeln in der christlich-sozialen Tradition und in der Philosophie der europäischen Aufklärung liegen, neigt naturgemäß einer verantwortungsethischen Politik zu. Diesen legitimen Standpunkt moralisierend und polemisierend zu verurteilen, anstatt ihn sachlich zu diskutieren, ist intellektuell unredlich. Manche, die in der Migrationsfrage insgesamt einen verantwortungsethischen Zugang haben, lösen das persönliche moralische Dilemma dadurch, im Einzelfall  gesinnungsethisch zu handeln. Eine Teilzeit-Verantwortungsethik sozusagen. Motto: „Wir können eh nicht jeden nehmen, aber einige Kinder sollten wir schon zu uns holen.“ Wobei sich der Verdacht aufdrängt, dass manche – europäische Regierungsvertreter – eher einer moralisch bequemen Haltung frönen, als durch konkrete Handlung zu überzeugen. Die Statistik der Aufnahme von Migranten seit 2015 sprechen nicht immer für jene, die jetzt besonders laut sind. Jedenfalls scheint weithin Einigkeit zu herrschen, dass es um ein „Signal der Menschlichkeit“ gehe, auch wenn sich dieses Signal nur selbst genügt. Gut fürs Gewissen ist es allemal. Man kann es auch für zynisch halten: Nehmen wir 50 Kinder auf, dann muss sich unser Gewissen nicht weiter mit den Tausenden anderen in Griechenland oder gar den Millionen weltweit beschäftigen ...

Die Autorin ist Präsidentin der Politischen Akademie der ÖVP

Heuer haben wir öfter die Botschaft gehört, es gelte, Weihnachten zu retten. Dabei ging es um die „Ware Weihnacht“, um die Belebung des Weihnachtsgeschäfts durch eine Lockerung zu Maria Empfängnis und um die Möglichkeit, Weihnachten „halbwegs würdevoll“ zu begehen.

Im Flüchtlingslager von Kara Tepe, in der „Hölle am schwarzen Hügel“, warten Tausende Menschen, darunter viele Kinder, auf ein Wunder. Ja, im Jahr 2020 grenzt es an ein Wunder, wenn man an den Grenzen der Festung Europa Kinder und ihre Familien im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention „menschenrechtskonform“ unterbringen würde. Würde, Menschenwürde – wenn man bedenkt, wie diese Menschen auf dem Boden der Europäischen Union in Schlamm und Dreck auf ihr nacktes Dasein reduziert sind, klingt die Würde wie ein kalter, berechnender Konjunktiv: Man würde ja, man ist berührt, aber der „Pull Effect“ …  „I tät scho, aber …“

Es gibt ganz gegensätzliche Sichtweisen in der Frage, was in Kara Tepe auf dem Spiel steht. Die Flüchtlingskrise, „Europas 11. September“, hat unsere Gesellschaft verändert. Wir erlebten und erleben, sagt der Politologe Ivan Krastev, „eine Migration der Argumente, Emotionen, politischen Identitäten und Wählerstimmen“. Mit der Corona-Krise befinden wir uns in einer zweiten Veränderungswelle, die die erste überlagert und deren Folgen verstärkt. In der allgemeinen Verunsicherung durch die Angst vor sozialem Abstieg und Identitätsverlust ist die Versuchung groß, auf eine Politik der „Versicherheitlichung“ zu setzen, die auf die Ängste der Menschen fokussiert und reagiert. Der Spielraum für humanitäre Hilfe wird entsprechend eng, und so wird „Hilfe vor Ort“ zum Zauberwort eines pragmatischen Realismus, der sich auch durch Weihnachten nicht vom rechten Weg abbringen lässt: keine Herbergssuche 2.0, sondern Hilfe vor Ort, so unbeholfen wirkungslos diese auch sein mag, wofür man aber nicht verantwortlich oder gar schuld sei.

Kara Tepe ist für Europa mehr als nur eine Notlage, die sich vor Ort mit Zelten und Decken und organisierter Kinderbetreuung lösen lässt. Die Tragödie in den griechischen Lagern ist ein Prüfstein für die europäische Solidarität und für die Verbindlichkeit der Menschenrechtskonvention, deren 70. Geburtstag wir heuer halbwegs würdevoll gefeiert haben.

Womit wir wieder bei der Würde sind: Die Menschenwürde verbietet es, diese Kinder und ihre Familien ihrem Schicksal zu überlassen. „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ – im Sinne der Worte von Friedrich Hölderlin hoffe ich, dass uns Weihnachten und die Zeit zwischen den Jahren einer erfolgreichen Herbergssuche 2.0 näherbringen.

Der Autor ist ÖVP-Bürgermeister von Lustenau

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